Die Abschaffung des Fiebers

Le Monde diplomatique –

Peking, 27. November 2022: Protest gegen die Null-Covid-Politik
Peking, 27. November 2022: Protest gegen die Null-Covid-Politik Foto: KOKI KATAOKA/picture alliance/ap

Xi Jinping hat eine Kehrtwende vollzogen, wie sie nur in der Volksrepublik China möglich ist. Am 7. Dezember 2022 zog der Präsident einen Schlussstrich unter seine Null-Covid-Politik. In weniger als 48 Stunden verschwanden die Blockaden, mit denen Stadtviertel oder ganze Städte abgeriegelt worden waren, die PCR-Testkabinen und Checkpoints wurden abgebaut, die Fiebermessgeräte an den Eingängen öffentlicher Gebäude ausgeschaltet und die obligatorischen QR-Code-Apps auf den Smartphones gelöscht.

Doch das alte Leben kehrte nicht zurück. Die Menschen isolieren sich jetzt selbst. Nur in den Apotheken und Notaufnahmen brummt es. Besonders begehrt ist Paracetamol, das in kürzester Zeit ausverkauft war. Während des Lockdowns durfte das fiebersenkende Medikament offiziell nicht verkauft werden, um die Temperaturkontrollen nicht zu verfälschen. Mangelware sind auch Arzneien der traditionellen chinesischen Medizin, deren Preise durch die Decke gehen. Die Produktion läuft auf Hochtouren, doch der Vertrieb stockt.

In der Hauptstadt sind infolge der Kälte viele an Grippe erkrankt, zusätzlich breitet sich die Omikron-Variante in rasendem Tempo aus. Nach drei langen Jahren unter strengster Kontrolle heißt nun die Losung „Jeder ist für seine Gesundheit selbst verantwortlich.“ Das macht vielen Angst.

Wird es eine Million Tote geben? Oder gar zwei? Das befürchten Experten, die für ihre Hochrechnung von der hohen Sterberate in Hongkong vom März 2022 ausgehen. Nachdem die Gesundheitsämter diese Zahlen zunächst verbreitet hatten, um die verschärften Lockdowns nachträglich zu rechtfertigen, erklären sie nun, dass die Situation nicht vergleichbar sei: In Hongkong seien damals erst 20 Prozent der Menschen über 60 geimpft gewesen, gegenüber 68,9 Prozent auf dem Festland. Ein Massensterben unter den in China verehrten Alten könnte für Xi und die KPCh politisch gefährlich werden.

Das Chaos nach dem Null-Covid-Ausstieg ist nicht so verwunderlich, wenn man sich die Fakten anschaut: Erstens gab es in China keinerlei Impfpflicht. Die Jungen hatten aber Vorrang, weil sie arbeiten und deutlich mehr soziale Kontakte haben als die Älteren. Dass in China nur 40 Prozent der über 80-Jährigen geimpft sind, hat allerdings noch einen weiteren Grund. Die Alten misstrauen der konventionellen Medizin und vor allem der einheimischen Pharmaindustrie, die in den letzten Jahrzehnten durch Skandale in Verruf geraten ist.

Zweitens wurde das Gesundheitssystem zwar modernisiert, aber es ist fraglich, ob es dieser extremen Notlage gewachsen ist. Die Anzahl der Intensivbetten soll auf 10 pro 100 000 Einwohner verdoppelt werden, und man will beim Pflegepersonal aufstocken. Und Pavloxid, das Anti-Covid-Medikament des US-Pharmariesen Pfizer, wurde zwar schon vor Monaten zugelassen, ist aber schwer zu bekommen.

Drittens kam die Null-Covid-Politik mit ihren großflächigen Lockdowns an ihre Grenzen, als sich die sehr viel ansteckendere, aber weniger tödliche Omikron-Variante ausbreitete. Die Zahl der „falsch Positiven“ bei der täglichen Testpflicht explodierte. Mehr als 250 neue Firmen, zum Teil sogar an der Börse notiert, wurden daraufhin bestraft, weil sie um des Profits willen billige, mangelhafte Tests verkauft hatten. Während viele Arbeitnehmer:innen, kleine Firmen und Händler durch die Lockdowns in den finanziellen Ruin getrieben wurden, haben sich diese Hersteller eine goldene Nase verdient.

Die Hygienevorschriften, die man hingenommen hatte, als es darum ging, Menschenleben zu retten, wurden immer unerträglicher. In den sozialen Medien wuchs die Auflehnung gegen die berüchtigten „Männer in Weiß“, die die Maßnahmen durchsetzen mussten (siehe Kasten im Anschluss an diesen Text). Als nach dem Ende des 20. Parteitags der KPCh am 22. Oktober nicht wie erwartet die große Öffnung folgte, wuchsen die Enttäuschung und die Wut. Zumal der Präsident selbst schon wieder ins Ausland reiste und bei internationalen Treffen die Maske abnahm!

Am 11. November wurden die Maßnahmen gelockert, allerdings zu wenig und zu langsam. Die Anweisungen waren unklar und sorgten bei den Behörden für Verwirrung. Sie hatten Angst, gegen die Vorgaben zu verstoßen – oder auch ein finanzielles Interesse am Status quo.

Nach dem tödlichen Brand in einem abgesperrten Wohnhaus in Urumqi am 24. November kam es zu landesweiten Demonstrationen. Die Menschen hielten zum Protest unbeschriebene weiße Blätter in die Höhe, das Symbol der Zensur; wenige forderten auch den Rücktritt des Präsidenten.

Manche Kommentator:innen sahen darin schon die Vorzeichen für ein neues Tiananmen, die 1989 zerschlagene Demokratiebewegung. Doch die Proteste sind nicht vergleichbar. Die Menschen der Mittelschicht, die diesmal auf die Straße gingen, wollen das System nicht stürzen, das für sie Komfort und Sicherheit bedeutet.

Wie so oft hat die Staatsmacht zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Sie hat diejenigen bestraft, die sie für die Anführer hielt, und die Universitätsferien vorgezogen; und sie hat die Erwartungen der Straße erfüllt, indem sie ihre Null-Covid-Politik beendet hat. Mindestens ebenso viel Gewicht wie die Demonstrationen hatte der Druck vonseiten der Unternehmen, die eine Rezession fürchten. Auf der Pekinger Jahreskonferenz für Wirtschaftspolitik wurden im November eine Reihe von Maßnahmen beschlossen, um die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen. Doch wie gewinnt man das massiv beschädigte Vertrauen der Bevölkerung zurück? Martine Bulard

Generation No Future

Niemand weiß, wann genau dieses Video in Schanghai aufgenommen wurde noch von wem. Doch das ist gar nicht wichtig. Was zählt, ist der Tag, an dem es in den sozialen Medien rasend schnell verbreitet wurde, und das war der 11. Mai 2022. Es ist nur eineinhalb Minuten lang. Ein Polizist im weißen Schutzanzug ist dabei, ein junges Paar in ein Quarantänelager zu sperren. Der junge Mann wehrt sich. Seine Corona-Testergebnisse seien doch alle negativ gewesen. „Wenn Sie die Anweisungen nicht befolgen, werden Sie bestraft. Sie, Ihre Kinder und Ihre Enkel werden bestraft!“, droht der Polizist. Bevor sich die Tür hinter dem jungen Mann schließt, hört man ihn noch sagen: „Danke, aber ich bin schon die letzte Generation.“

Diese Antwort war schockierend, denn Kinderlosigkeit gilt in China als schlimmster Fluch. „Aus diesen Worten spricht tiefste Verzweiflung“, twitterte der bekannte Menschenrechtsanwalt Zhang Xuezhong. Wer freiwillig auf Kinder verzichte, habe keine Hoffnung mehr: „Das ist die schärfste Anklage, die ein junger Mensch seiner Zeit machen kann.“

In China ist seit Langem gesellschaftlicher Konsens, dass politisches Interesse nur Ärger bringt. Doch nun zitieren junge Chines:innen in politischer Absicht einen bekannten Satz aus einem Biopic von 1984 über den Reformpolitiker Tan Sitong (1865–1898). Tan wurde mit nur 33 Jahren auf Befehl der Kaiserinwitwe Cixi hingerichtet, die gegen eine Modernisierung der Qing-Dynastie war. Sie entmachtete ihren Neffen, Kaiser Guangxu, der die Reform angeschoben hatte. In dem Film sagt Tans Frau, mit der er schon einen Sohn hat: „Ich möchte noch ein Kind von dir.“ Darauf entgegnet er, und das ist der berühmte Satz: „In diesem China noch ein Kind, das nur ein weiterer Sklave wär?“

Der Aufschrei eines Unbekannten hat ganz normale junge Leute in China ermutigt, ihren Frust herauszulassen. Und ihr Stichwortgeber ist ein Reformpolitiker, der vor 124 Jahren hingerichtet wurde: „Eure Herrschaft endet mit mir“, schreiben die Jungen im Netz, ohne ihren Adressaten beim Namen zu nennen. „Das Leid, das Ihr uns zufügt, hört mit mir auf.“

Chinas sehr effizientes Zensursystem hat zwar wie üblich schnell dafür gesorgt, dass das Schlüsselwort „letzte Generation“ im Internet geblockt wurde; doch da war der Gedanke längst in der Welt. Am 12. Mai 2022 zitierte der in die USA emigrierte Schriftsteller Murong Xuecun den Tweet: „Wenn Kinder nur zur Unterwerfung geboren werden, wenn unsere Kinder dasselbe erleiden müssen wie wir, sollten wir uns alle sterilisieren lassen.“

Die Geburtenrate in China sinkt – obwohl die Ein-Kind-Politik 2016 nach 30 Jahren abgeschafft wurde. 2021 kamen auf 1000 Einwohner 7,5 Geburten – das ist die niedrigste Ziffer seit 1978. Laut Zhang Zhiwei, Chefökonom beim Schanghaier Anlageberater PinPoint Capital, „altert die chinesische Gesellschaft schneller als vorausgesehen“. Die oft zitierte Formel „China wird alt, bevor es reich wird“ könnte sich bewahrheiten – und auf absehbare Zeit das Ziel vereiteln, die USA als führende Wirtschaftsmacht abzulösen.

Es gibt natürlich viele Gründe für den demografischen Niedergang, aber der Pessimismus der Jungen beschleunigt diesen Prozess. Deren Botschaft sei in China für alle ein Schock gewesen, erklärt der Soziologe Biao Xiang, der am Max-Planck-Institut in Halle die Abteilung „Anthropology of Economic Experimentation“ leitet. Ausgangspunkt für den Aufruhr sei aber nicht die Politik im Allgemeinen gewesen, sondern „der administrative Eingriff in den Alltag“. Als die 25-Millionen-Einwohner-Metropole Schanghai zwischen März und Mai 2022 unter strenger Quarantäne stand, haben viele Menschen unter der Mangelversorgung gelitten und sogar regelrecht gehungert.

Dieses „repressive Chaos“, so Xiang, beherrsche China wie kein anderes autoritäres Regime, indem es durch immer mehr Anweisungen ein „Gefühl der Absurdität“ erzeuge. Es sei unwahrscheinlich, dass das Leben wieder wird wie vor der Pandemie, die psychische Belastung und die Enttäuschung über den Mangel an öffentlicher Fürsorge wögen zu schwer. Das werden die Menschen nicht so schnell vergessen; die Folgen werden bleiben, selbst unter den Jungen auf dem Land, meint Xiang.

Der frühere Journalist Fan Dang aus der ostchinesischen Provinz Zheijang bezeugt das: Seine 26-jährige Tochter wolle auch keine Kinder haben. Er kann sie verstehen und unterstützt sie: „Warum soll hier ein Mensch geboren werden, wo die Menschenwürde mit Füßen getreten wird?“ Zhang Zhulin