Black Culture: Amerikanisch werden in Afrika

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Pop und Fernsehen feierten 1977 in den USA den Panafrikanismus, doch dessen wichtigste Wegmarke ging vergessen: das Festac 77 in Lagos. Ein Fotoband will das ändern.

Noch bevor die Titel rollen, zuckt man heute bereits zum ersten Mal zusammen. Denn die weisse Stimme aus dem Off präsentiert: «From primitive Africa to the Old South, ‹Roots› sweeps across the panorama of a young America.» – «Primitive»? Das mehrteilige TV-Drama «Roots» über die Geschichte der Sklaverei war 1977 dennoch ein Strassenfeger. Und nicht nur die Black Community verstand genau, als der Anführer des Sklav:innenaufstands am Schluss der ersten Folge sagte: «We will be one village.» Wir werden ein Dorf sein: Das ist im Januar 1977 ein klares Bild für die Idee von Afrika als einer kulturellen Einheit, die mit Stolz und Solidarität aus der Zeit der Kolonisierung herausfinde und auch die Diaspora mit einschliesse.

Mit «Roots» erreicht der Panafrikanismus, davor ein Konzept für Intellektuelle und Aktivist:innen, die durchschnittlichen Wohnzimmer, ab Herbst 1977 auch in Europa. «Wurzeln» und damit verbunden die Vertreibung aus dem «ursprünglichen» Land sind damals die Schwarzen Schlagworte der Stunde, wohin man popkulturell auch schaut. Nebst dem für heutige Ohren klar rassistischen Klang schwingt in «primitive» damals auch eine idealisierte Vorstellung des Ursprünglichen mit. Sogar der politisch nicht besonders radikale Motown-Komponist Lamont Dozier aus Detroit hat einen Hit mit «Going Back to My Roots». Und der berühmteste Reggaemusiker der Welt nennt, auch er im Jahr 1977, sein wichtigstes Album «Exodus».

Bob Marley kennen alle, «Roots» zumindest die Älteren. Aber fast niemand kennt die wohl wichtigste, aber gleichzeitig letzte panafrikanische Grossveranstaltung: das Second World Black and African Festival of Arts and Culture, kurz Festac 77, in Lagos, Nigeria. Das erste Festival dieser Art hatte 1966 im Senegal stattgefunden, eine eher streng intellektuelle Veranstaltung. Ganz anders das Festac 77: Jetzt ist mehr Spektakel. Etwa 16 000 Teilnehmer:innen aus 56 afrikanischen Nationen und der Diaspora treffen zusammen, um das neue afrikanische Selbstbewusstsein zu feiern, darunter Stars wie Stevie Wonder, Gilberto Gil oder die Südafrikanerin Miriam Makeba.

Die junge Fotografin Marilyn Nance aus New York City ist 23 Jahre alt, als sie mit einer US-Delegation nach Lagos reist. Erst sollte sie als Künstlerin eingeladen werden, dann schrumpfte das Budget, und Nance fiel von der Liste. Sie blieb hartnäckig, schrieb Briefe. Und fand eine Lösung: Sie und ihre Freundin fuhren als Technikerinnen mit. Fotografiert hat Nance dennoch. Der Band «Last Day in Lagos» zeigt nun ihre schwarzweissen Fotografien und ordnet das Grossereignis mit einem Interview und drei Essays ein.

Dieser Glanz im Gesicht

Fast unerklärlich, warum Nances Bilder so lange nicht ins Bewusstsein Schwarzer Geschichte getreten sind. Eines davon wurde zwar ikonisch, wenn man das über ein Festival, dessen Erinnerung verblasst ist, so sagen kann. Aber wenn etwas übrig geblieben ist vom Festac 77, dann wohl das Bild des stolz lächelnden nigerianischen Matrosen in Weiss, der im Nationalstadion bei der Eröffnungsparade neben einer Gruppe von Kriegern ein Schild mit dem Namen seines Landes hält. Von den zentralen Paraden gibts im Buch noch ein paar Bilder mehr. Aber richtig interessant wird es dort, wo die Bilder die offiziellen Pfade verlassen.

Nance fotografierte ohne Auftrag der US-Delegation, das sieht man den Bildern an. Rund um das Stadion liegt viel Abfall, die Ästhetik sucht den Realismus. Und so tritt etwas in Erscheinung, das die schriftliche Geschichtsschreibung nur mühsam in den Blick bekommt: wie entspannt die Leute miteinander abhängen, in ruhigen Momenten und in lauten, wie freundschaftlich die Körper sich aufeinander beziehen. Mit dem Zwang zur Darstellung des gelungenen Lebens, der heute in sozialen Medien zur Grundeinstellung gehört, hat diese Bildsprache nichts zu tun.

Nance zeigt die glamourösen US-Aktivist:innen wie Louis Farrakhan und Audrey Lorde, aber auch ihren jungen Freundeskreis und viele Alltagsporträts. Selbst Sun Ra, der afrofuturistische Jazzmusiker aus den USA, probt an einem Nachmittag ruhig, während Leute von der Strasse im Türrahmen stehen und zuschauen. Die Fotografien schaffen, was der Panafrikanismus versprach: Egal ob sie Hipster aus New York in den Fokus nehmen oder nigerianische Arbeiterinnen und Besucher, sie alle haben einen ähnlichen Glanz im Gesicht, eine Coolness in der Haltung, einen gelassenen Stolz. Als würden sie sagen: Endlich, wir sind im postkolonialen Zeitalter angekommen. Und wir sind alle, logisch, «black and beautiful».

Ihre politische Schulung in New York liess Nance mit der Überzeugung nach Nigeria fahren, sie sei Afrikanerin. Vor Ort war dann niemand dieser Meinung: «Wir wurden als Amerikaner:innen wahrgenommen.» Idealismus wurde von der materiellen Erfahrung korrigiert. Die Herausgeberin Oluremi C. Onabanjo, eine junge Kuratorin am Museum of Modern Art in New York, fragt hier leider nicht weiter. Womöglich könnte das panafrikanische Bild gestört werden.

Nach der Party kam das Militär

Furchtloser geht dabei der einzige afrikanische Beitrag im Buch zur Sache: ein toller, vor fünf Jahren bereits bei der Red Bull Music Academy erschienener Essay des nigerianischen Musikjournalisten Uchenna Ikonne über die Rolle der Musik im Panafrikanismus wie auch konkret beim Festac 77. Und gerade mit der Geschichte des bekanntesten afrikanischen Musikers seiner Zeit zeigt Ikonne, wie komplex das Bild der Wurzel schon immer war. Es geht um, wen sonst, Fela Kuti.

So wie die Fotografin Nance erst in Nigeria erkannte, wie amerikanisch sie war, erging es dem nigerianischen Jazzmusiker Kuti in den USA. In London hatte er Jazztrompete gelernt, aber erst bei den aktivistischen Schwarzen in Los Angeles sah er, wie cool es sein kann, afrikanische Gewänder zu tragen, die er in Lagos immer doof gefunden hatte. Die Melange aus Funk und Highlife, die Kuti später dann weitertrieb und «Afrobeat» nannte, war mit rein lokalen Wurzeln oder einer Idee des Motherland nicht mehr zu erklären.

An Fela Kuti lässt sich aber auch die Tragik des Festac 77 in der Nachgeschichte festmachen. Marilyn Nance hat in Kutis Club, dem Afrika Shrine in Lagos, viel fotografiert. Wir sehen Randy Weston, Stevie Wonder, Miriam Makeba, die mit nigerianischen Musiker:innen auf Kutis Bühne stehen. Der Hausherr selbst sollte erst das Festac-Programm mitbestimmen, beschwerte sich aber über politische Einflussnahme und schied aus. Die Konzerte im «Shrine», bei denen er sich offen gegen die mit Öl reich gewordene Militärdiktatur wendete, die mindestens 400 Millionen Dollar in das Festival pumpte, verstand Kuti als Gegenfestival. Kaum war das Festac 77 vorbei, überfiel das Militär den Club, prügelte, vergewaltigte. Fela Kutis Mutter starb an den Folgen eines Sturzes. Und ein drittes panafrikanisches Festival sollte nie mehr stattfinden.

Die Maske der Königin

Das Festac 77 hatte aber mehrere Vorläufer: 1969 in Algiers, das «Soul to Soul»-Festival am selben Ort zwei Jahre später, das als Black Woodstock in die Erinnerung eingegangene Festival in Kinshasa rund um den Boxkampf zwischen Muhammad Ali und George Foreman 1974. Mit dem Festac 77 lassen sich keine überbordenden Geschichten erzählen, weil die vier Wochen gleichzeitig Höhe- und Endpunkt des panafrikanischen Gedankens markieren. Beides zeigt «Last Day in Lagos» – die Ermächtigung in den Bildern, die Ernüchterung in den Texten.

Eine andere Spur führt derweil in die aktuelle Weltpolitik. Offizielles Symbol des Festac 77 war eine Königinnenmaske, die die Briten 1897 auf einem brutalen Raubzug in Benin mit Tausenden anderen heiligen Kunstgegenständen gestohlen hatten. Das British Museum weigerte sich damals, die Maske fürs Festival zurückzugeben, selbst eine Ausleihe gegen drei Millionen Dollar lehnte es ab. Übrigens bis heute. Kurz vor Weihnachten 2022 fuhren nun die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock und die Kulturstaatsministerin Claudia Roth nach Nigeria und gaben den ersten Schwung an Kunstwerken zurück, die man «Benin-Bronzen» nennt. Vielleicht hilft ein Buch wie «Last Day in Lagos» nicht nur, das Ende einer Idee zu illustrieren, sondern auch, an nie wiedergutgemachtes Unrecht zu erinnern, vielleicht sogar im Vereinigten Königreich.

Buchcover von «Last Day in Lagos»

Marilyn Nance, Oluremi C. Onabanjo: «Last Day in Lagos». Fourthwall Books / Cara. Johannesburg / New York 2022. 299 Seiten. 69 Franken.