Klimabewegung: Erdverhaftet wie die Termiten

Nr. 3 –

Wie kann Klimaprotest zu einer echten Massenbewegung werden? In seinem letzten Buch will der französische Soziologe Bruno Latour zeigen, wie eine «ökologische Klasse» den historischen Materialismus aufsprengen müsste.

Am Ende ging der Protest gegen die Kohle in den Untergrund. Zwei Aktivisten verschanzten sich in Lützerath tagelang in einem selbst ausgehobenen Tunnel, um die Räumung des Dorfes durch die Polizei möglichst lange zu verzögern. Diese verhindern konnten auch sie nicht. Trotzdem schufen die beiden ein eindrückliches Bild: Waren sie nicht dadurch, dass sie unter Tage gegangen waren, fast schon buchstäblich zu Erdverhafteten geworden? Zu Termiten in Menschengestalt?

Diese Assoziationen drängen sich zumindest für Leser:innen von Bruno Latour auf. Der im Oktober verstorbene französische Soziologe hatte sich in den vergangenen Jahren der Ausformulierung einer neuen Kosmologie im Dienste des Kampfes gegen die Klimakatastrophe verschrieben, wobei er sich oft schillernder Metaphern bediente. Die Termite hatte in Latours vorletztem Buch, in dem er die Erfahrung des Lockdowns reflektierte, einen grossen Auftritt: Das Insekt lebt in Symbiose mit Pilzen, die auf die Verdauung von Holz spezialisiert sind, und haust in einem selbst hergestellten Bau. «Der unbelebte Rahmen und die ihn Belebenden sind eins», resümierte Latour damals diese erdverhaftete Existenzweise, die bei ihm exemplarisch für das planetarische Ganze steht.

Die Natur spaltet

Dieses hat Latour auch in seiner nun veröffentlichten letzten Arbeit im Blick: «Zur Entstehung einer ökologischen Klasse», verfasst mit dem jungen dänischen Soziologen Nikolaj Schultz. Das Buch ist keine umfangreiche Abhandlung, sondern ein schmales «Memorandum», wie es im Untertitel heisst. Die Denkschrift ist aber praktischer orientiert, sie fragt vor allem danach, wie der Klimaaktivismus von einer Bewegung unter vielen zu einer geschichtsmächtigen Kraft werden könnte – so wie einst der Dritte Stand in Frankreich und später die proletarische Internationale.

An sozialem Sprengstoff mangelt es nicht. Latour und Schultz stellen eingangs eine Zunahme ökologischer Konflikte fest: Die Natur eine offensichtlich nicht, sondern spalte, von ihr zu sprechen, heisse daher keineswegs, «einen Friedensvertrag zu unterschreiben». Womöglich dachten die Autoren bei dieser Formulierung an Strassen blockierende und Bäume besetzende Aktivist:innen, wie man sie nicht nur eben in Westdeutschland gesehen hat, sondern auch aus den «zones à défendre» in Frankreich und der Romandie kennt. Nur: So wichtig diese Kämpfe sind, so unzureichend sind sie aus Sicht der beiden Soziologen.

Was nämlich fehlt, ist eine «allgemeine Mobilisierung», eine wirkliche Massenbewegung fürs Klima. Deswegen bringen Latour und Schultz nun den Begriff der «ökologischen Klasse» ins Spiel. Von «Klasse» zu sprechen, bedeute immer, «Schlachtordnung einzunehmen», heisst es im Buch. Zwar ist das Klassenkonzept von liberaler und konservativer Seite oft diskreditiert worden. Trotzdem trauen die beiden ihm zu, ein politisch-ökologisches Projekt zu markieren, das bald schon genug Schlagkraft entfalten könnte, um die Zerstörung der planetaren Lebensgrundlagen zu stoppen.

Die Bewohnbarkeit der Erde

Dass sich der politisch eher als ambivalent einzuschätzende Latour (siehe WOZ Nr. 48/21) damit terminologisch in die Nähe zum Marxismus begibt, mag überraschen, zumal die Autoren sich auch noch anschicken, die philosophische Tradition des Materialismus zu erneuern. Tatsächlich steht in ihren Augen die ökologische Klasse in «historischer Kontinuität mit den gesellschaftlichen Kämpfen gegen die Ökonomisierung sämtlicher Beziehungen»: Auch sie müsse sich der «Verselbständigung der Wirtschaft auf Kosten der Gesellschaften» widersetzen, also der Vorstellung, menschliche Bedürfnisse hätten sich dem Markt anzupassen und nicht umgekehrt. In dieser Hinsicht sei die ökologische Klasse «ganz ohne Zweifel links».

Zugleich aber sei Klassenkampf bislang unentwirrbar an den «Begriff und das Ideal der Produktion gebunden»: Der Konflikt zwischen Arbeit und Kapital entzünde sich an der Frage nach der Verteilung des hergestellten Reichtums, die Notwendigkeit des Immer-Mehrs stelle er aber nicht in Abrede. Genau Letzteres untergrabe die terrestrischen Lebensgrundlagen. Deswegen definiere sich die ökologische Klasse zwar einerseits genauso wie das Proletariat «im Verhältnis zu den materiellen Bedingungen ihrer Existenz». Andererseits aber wollen Latour und Schultz «Materialität» umfassender verstanden wissen.

So heisst es im Text programmatisch: «Heute Materialist zu sein heisst, zusätzlich zur Reproduktion der für die Menschen günstigen materiellen Bedingungen auch die Voraussetzungen zur Bewohnbarkeit der Erde zu berücksichtigen.» Damit nehmen die Autoren den angeblichen Anthropo­­zentrismus linker Gesellschaftskritik aufs Korn. Weil bei dieser das planetarische Drumherum ausserhalb des Sichtfelds verbleibe, so Latour und Schultz, müsse die ökologische Klasse die Beschränktheit des historischen Materialismus aufsprengen: Nur so lasse sich der Bann der Produktion brechen.

Latour und Schultz dürften damit etwa Industriegewerkschaften meinen, die im Dienste des Arbeitsplatzerhalts eine die Klimakrise befeuernde Politik unterstützen – wenn sie also wie beispielsweise die deutsche IG Metall in der Coronakrise lauthals staatliche Subventionen für die Autoindustrie einfordern. Repräsentativ für linke Praxis insgesamt ist das sicher nicht: Die ökosozialistische Debatte ist mittlerweile ein gutes halbes Jahrhundert alt, und auch bei Marx selbst schon finden sich Überlegungen, die die naturzerstörende Dynamik des Kapitalismus ins Zentrum rücken (siehe WOZ Nrn. 51+52/22).

Gerade aber in jüngerer Vergangenheit ist viel über den Zusammenhang von Klima und Kapitalismus nachgedacht worden. Der schwedische Humangeograf Andreas Malm etwa fragte in seinem Buch «Fossil Capital» (2016), warum sich im 19. Jahrhundert Kohle als Energielieferant gegenüber der billigeren Wasserkraft durchgesetzt hatte. Malms Antwort: Wasserkraft ist räumlich gebunden und abhängig vom Wetter- und Jahreszeitenwechsel, während Kohle eine viel gefügigere Energiequelle darstellt. Diese taugte daher besser dazu, die Arbeit dem künstlichen Rhythmus der Fabrik zu unterwerfen. Damit scheint plötzlich ein direkter Zusammenhang zwischen der Vernutzung des Menschen und jener der Natur auf.

Konsum und Kapital

Ähnlich erweitern Politikwissenschaftler:innen wie Ulrich Brand und Markus Wissen die Perspektive, wenn sie untersuchen, wie der auf Massenkonsum basierende Nachkriegskapitalismus die Interessen der Arbeiter:innen an diejenigen des Kapitals koppelte. So erst lässt sich begreifen, warum Gewerkschaften und Klimabewegung immer wieder aneinandergeraten. Ist es also wirklich die Natur, die spaltet?

In diesen Debatten bemüht man sich jedenfalls um die konkreten Bedingungen, unter denen eine ökologische Klasse ihren Kampf aufnehmen müsste. Latour und Schultz dagegen beschreiben Ökonomie bloss damit, dass der «Einsatz von Ressourcen zum Zwecke der Produktion» diese definiere. Es gehe darum, sich von einem aufs Wirtschaftswachstum verengten Denken zu lösen und zu lernen, «endlich zu prosperieren», mahnen sie. Solche Allgemeinplätze lassen weder verstehen, wieso Kapitalismus derart destruktiv wirkt, noch, warum die Klimabewegung so grosse Widerstände zu überwinden hat.

Wie handfest diese sind, haben die mit Schlamm, Polizei und Konzerninteressen ringenden Aktivist:innen in Lützerath gerade erst erlebt. Um diese Widerstände zu überwinden, wird es mehr als anregende philosophische Metaphern brauchen.

Buchcover von «Zur Entstehung einer ökologischen Klasse. Ein Memorandum»

Bruno Latour und Nikolaj Schultz: «Zur Entstehung einer ökologischen Klasse. Ein Memorandum». Aus dem Französischen von Bernd Schwibs. Suhrkamp Verlag. Berlin 2022. 93 Seiten. 24 Franken.