Am Wef: Schwabs interesselose Welt

Nr. 3 –

Das Weltwirtschaftsforum in Davos steckt ideologisch in den neunziger Jahren fest. Eine Umkehr würde Klaus Schwabs Vermächtnis gefährden.

Blick auf Mumbai: im Vordergrund ein Slum, im Hintergrund Hochhäuser
Die Krisen häufen sich, die Welt wird immer ungleicher – braucht es eventuell eine andere Politik? Blick auf Mumbai. Foto: Srinivas Akella, Alamy

Alle vier Sekunden stirbt derzeit ein Mensch an Hunger, schätzen NGOs. Allein in den fünf Tagen des diesjährigen Weltwirtschaftsforums (Wef) sind das über 100 000 Menschen. Es ist, als würden die 3000 CEOs und Politiker:innen, die derzeit in Davos weilen, in weniger als vier Stunden einfach dahingerafft.

Zwar erwähnte Wef-Chef Klaus Schwab den Hunger in seiner Willkommensrede genauso wie die Ungleichheit oder den drohenden Klimawandel. Der Weg, wie er diese Probleme aus der Welt räumen will, tönte jedoch, als würden wir noch in den neunziger Jahren leben. Wie damals, als nach dem Kollaps der Sowjetunion die Zukunft den kapitalistischen Demokratien zu gehören schien – und US-Präsident Bill Clinton einen Neoliberalismus mit freundlichem Gesicht zum «dritten Weg» ausrief, der keine Interessenkonflikte mehr kennen und alle Menschen gemeinsam in eine bessere Zukunft führen würde.

Wenn Schwab spricht, dann stets von «Investitionen», «Problemlösungen» und «Opportunitäten». Oder etwas konkreter in den Worten seines Präsidenten Børge Brende Anfang Woche gegenüber der NZZ: «Die neue Version von Reglobalisierung ermöglicht Wachstum, das alle einschliesst. Sie hilft, Armut in Schwellenländern zu beseitigen, und erlaubt es auch den Industrieländern, in der Wertschöpfungskette hochzuklettern.»

Wenn die Welt nach dreissig Jahren dieser Wirtschaftspolitik im Chaos versinkt: Sollte man sich dann nicht fragen, ob es eine andere Politik braucht?

Der Weg in die «Polykrise»

Dabei war Clintons Neoliberalismus mit dem freundlichen Gesicht bereits 2008 in sich zusammengestürzt. Jahrelang hatten sich Staaten Geld geliehen und dafür geschaut, dass Privathaushalte das Gleiche tun, um so die wirtschaftliche Nachfrage am Laufen zu halten, die mit der zunehmenden Ungleichheit wegzufallen drohte. Bis die Blase platzte. In den Jahren danach forderten am Wef alle eine radikale Umkehr. Doch das ist lange her.

Seither ist die Welt noch tiefer in die Krise gerutscht: Statt zu sinken, hat sich die Vermögensungleichheit weltweit laut der World Inequality Database gar weiter vertieft. Über die Hälfte der in den letzten zehn Jahren zusätzlich generierten Vermögen ging laut einer kürzlich publizierten Studie der NGO Oxfam an das reichste eine Prozent – während die ärmere Hälfte gerade einmal 0,7 Prozent erhielt. Die Staatsschulden sind laut einem neuen Bericht des Internationalen Währungsfonds von 61 weiter auf 96 Prozente des Bruttoinlandprodukts geklettert. Die Uno warnt seit Wochen, dass 54 ärmere Länder des Südens ihre Schulden kaum mehr stemmen könnten. Über alldem steht die ökologische Krise, in der Pflanzen und Tiere in rasantem Tempo dezimiert werden; das Ziel, den CO₂-Ausstoss bis 2050 auf null zu senken, um das Schlimmste zu verhindern, liegt noch nicht annähernd in Reichweite.

Der entgrenzte Kapitalismus zersetzt immer mehr auch den Liberalismus, wie auch Bundesrat Alain Berset in seiner Wef-Eröffnungsrede warnte. Der sich verschärfende ökonomische Verteilungskampf bringt Leute an die Macht, die den Wettbewerb zum Wirtschaftskrieg ausweiten, die Menschen durch einen aggressiven Populismus statt mit Brot für sich zu gewinnen versuchen und sich für den Machterhalt über die Demokratie hinwegsetzen. Die Welt stecke in einer «Polykrise» von sich gegenseitig befeuernden Problemen, diagnostizierte der US-Historiker Adam Tooze an einem Podium, auf dem der Zerfall der Globalisierung diskutiert wurde.

Die grosse Verleugnung

Und die Lage spitzt sich zu: Die gestiegenen Lebensmittelpreise, die Menschen zum Hungern bringen, haben laut Oxfam 95 der grössten Lebensmittel- und Energieunternehmen 2022 300 Milliarden US-Dollar an zusätzlichen Profiten gebracht – ein Gewinnplus von 256 Prozent. Statt diese Gewinne zu beschränken, bekämpfen die Zentralbanken die Inflation jedoch lieber mit höheren Zinsen, was die überschuldeten Länder des Südens kollabieren lässt und durch eine Rezession Millionen von Menschen weltweit in die Arbeitslosigkeit treiben wird.

Das Problem an diesem harmonischen dritten Weg aus den neunziger Jahren, an den sich Wef-Chef Schwab klammert, ist: Er verleugnet die existierenden Interessenkonflikte. Er tut so, als könnten Armut und Klimaerhitzung aus dem Weg geräumt werden – ohne dass die Millionäre und Milliardäre, die in Privatjets nach Davos fliegen und mit ihren dicken schwarzen Karossen über Tage die Strassen des Ortes verstopfen, auf irgendetwas verzichten müssten.

Doch das geht nicht. Das Grundproblem der heutigen Weltwirtschaft ist: Die Hälfte der Vermögen weltweit ist in den Händen des reichsten Prozents – das dieses Geld nicht dort investiert, wo es der Allgemeinheit am meisten bringt, sondern dort, wo es am meisten Profit abwirft, etwa in fossile Energie, Finanzpapiere oder Luxusgüter. Gleichzeitig fehlt weltweit das Geld, um in Bildung, in die Gesundheitsversorgung oder in die Energiewende zu investieren – was Arbeitsplätze schaffen, den CO₂-Ausstoss senken und den tatsächlichen Wohlstand der Menschen steigern würde.

Die zentralen Fragen sind also, wie dieses Vermögen besser verteilt wird und wer darüber entscheidet, wo es hinfliessen soll. Konkret: Es geht um höhere Steuern für Reiche – wofür etwa Gabriela Bucher, die Chefin von Oxfam International und einer der seltenen kritischen Gäste am diesjährigen Wef, im Gespräch mit der WOZ plädiert – oder um einen teilweisen Schuldenerlass für die Länder des Südens, wie dies rund 300 Demonstrant:innen in Davos forderten (vgl. «‹Anderswo sind wir schon viel weiter›»).

Diese Fragen kann das Wef so direkt jedoch nicht stellen. Nicht weil Schwab um jeden Preis die Profite seiner Gäste verteidigen will – er scheint sich durchaus aufrichtig um die Zukunft zu sorgen. Schwab wird die Fragen so nicht stellen, weil er von den Weltkonzernen abhängig ist. Deren CEOs werden nur so lange das Wef finanzieren und nach Davos reisen, wie ihre Interessen nicht infrage gestellt werden.

Solange dies nicht geschieht, bietet das Wef mit seinem pathetischen Brimborium für eine bessere Zukunft eine millionenteure PR-Fassade, hinter der die CEOs Geschäfte einfädeln können. Anders als sie schlug Twitter-Investor Elon Musk eine Wef-Einladung mit der Begründung aus, die Diskussionen dort seien «boring as fuck», verfickt langweilig. Vielleicht ist er nur etwas ehrlicher.