Kino: Bloss weg mit den Babysachen

Nr. 4 –

Im Film «Until Tomorrow» sucht eine junge Studentin in Teheran ein Versteck für ihren Säugling. Regisseur Ali Asgari zeigt das als Parabel über die Stellung der Frauen im Iran.

Filmstill aus dem Film «Until Tomorrow»: nächtliche Szene – eine Frau hält eines kleines Kind in den Armen
Auf Irrfahrt durch Teheran: Fereshteh (Sadaf Asgari) und Atefeh (Ghazal Shojaie). Still: Xenix Film

Wohin nur mit dem Baby? Fereshteh sitzt zusammen mit ihrer Studienfreundin Atefeh in einem Café in Teheran. Während Atefeh auf ihr Handy tippt, löffelt Fereshteh Milchpulver in einen Schoppen. Vor ihr auf dem Tisch liegt weinend das Baby, hinter der Fensterscheibe fahren die Autos vorbei – der Verkehrslärm durchdringt die Stille zwischen den beiden jungen Frauen. Die Stimmung ist angespannt, denn die Zeit drängt: Am Abend kommen Fereshtehs Eltern zu Besuch. Diese wissen nicht, dass ihre Tochter, die in Teheran studiert, seit zwei Monaten auch noch alleinerziehende Mutter ist. Um das Kind weiterhin geheim zu halten, will Fereshteh es bis am nächsten Morgen weggeben.

«Until Tomorrow», so heisst denn auch der Spielfilm des iranischen Regisseurs Ali Asgari, der 2017 mit «Disappearance» international bekannt wurde. Während jener Film in einer einzigen Nacht spielte, folgen wir jetzt einen ganzen Tag lang Fereshteh in ihrer immer grösser werdenden Verzweiflung quer durch Teheran.

Asgari hat genau diese Geschichte bereits in seinem Kurzfilm «The Baby» (2014) verfilmt. Diesen hat er nun mit einem neuen Anfang, einem neuen Ende sowie zusätzlichen Figuren und Handlungen zu einem Langspielfilm ausgebaut. Einige Dialoge sowie ein paar Drehorte, ja sogar manche Einstellungen sind dieselben wie im Kurzfilm, die Rollen der beiden jungen Frauen hat der Regisseur aus nachvollziehbaren Gründen neu besetzt. Ghazal Shojaie, die zurzeit auch in der Miniserie «Happiness» auf Arte zu sehen ist, brilliert als furchtlose und loyale Freundin Atefeh. Und Sadaf Asgari, eine Nichte des Regisseurs, die schon in «Disappearance» die Protagonistin spielte, überzeugt als schweigsame und willensstarke Fereshteh.

Wettlauf gegen die Zeit

Die Probleme beginnen am Morgen mit dem Telefonat ihrer Mutter: Völlig unerwartet kündigt diese ihren Besuch für den Abend an. Trotz Ausreden schafft es Fereshteh nicht, sie abzuwimmeln – und es beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit. Als Erstes müssen die ganzen Babysachen, Kleider, Bettchen, Windeln, aus der Wohnung verschwinden. Doch es ist nicht einfach, eine Nachbarin zu finden, die bereit ist, all diese Dinge für eine Nacht bei sich zu lagern. Die eine meint, ihre Wohnung sei zu klein, die andere sagt, sie müsste die Erlaubnis des Ehemanns einholen.

Trotzdem sieht es am Morgen eigentlich ganz gut aus für die junge Mutter: Eine Nachbarin erklärt sich bereit, einen Teil der Babysachen für eine Nacht zu lagern, der Rest wird in einem leer stehenden Winkel des Hauses verstaut. Und auch für ihr Kind hat Fereshteh jemanden gefunden. Gemeinsam mit Atefeh macht sie sich mit dem Taxi auf den Weg zu jener Frau, die das Baby hüten will. Doch vor der Haustür der Schock: Niemand öffnet, ans Handy geht die Frau auch nicht. Mit dem Taxi fahren die beiden zu deren Büro, doch das ist versiegelt. Eine Nachbarin sagt, die Polizei habe die Frau mitgenommen. Draussen kreuzen die beiden jungen Frauen die Polizei. Ob sie jemanden von diesem Büro suchen würden, wollen die Beamten wissen. Nein, antwortet Fereshteh knapp und läuft zügig aus dem Haus, das Baby an den Bauch geschnallt, Atefeh hinterher.

«Ist sie nicht einfach Anwältin? Wieso haben sie sie verhaftet?», fragt Atefeh nun im Café und blickt kurz von ihrem Handy auf. «Genau deswegen haben sie sie verhaftet, weil sie Anwältin ist», antwortet Fereshteh. Und sie schlägt Atefeh vor, mit dem Baby eine Nacht in einem Hotel zu übernachten. «Hotels akzeptieren keine Frauen ohne Ehemann», antwortet diese trocken.

Nah an der Realität

In solch kurzen Dialogen sowie in Blicken, Gesten und vielen einzelnen kleinen Szenen wird immer wieder angedeutet, wie wenig handlungsfähig Frauen im Iran ohne jeweilige Einwilligung eines Mannes sind. Und so stossen die zwei jungen Frauen, während sie beharrlich nach einer Lösung suchen, nicht nur überall auf Widerstand und Demütigungen, ihre ausweglose Situation wird auch kaltblütig ausgenutzt. Allerdings kommt auch von unerwarteter Seite Hilfe.

Dabei ist «Until Tomorrow» dennoch ein erstaunlich ruhiger, sorgfältig durchkomponierter Film. Immer wieder ruht die Kamera in langen Einstellungen in Halbdistanz auf den beiden Frauen, wenn sie im Restaurant, im Taxi oder an einer Strassenecke besprechen, was zu tun sei. Und leicht wacklig folgt sie ihnen, wenn sie dann wieder hektisch durch die Stadt laufen. Wie die Kamera an ihren Rücken klebt, wirkt zum Teil sehr dokumentarisch und erinnert an Filme der Brüder Dardenne. Diese nennt Asgari denn auch als seine Inspiration, neben Cristian Mungiu, Michael Haneke, dem italienischen Neorealismus und der Nouvelle Vague.

«Until Tomorrow» lief im letzten Herbst auch am Zurich Film Festival. Dort sagte die Hauptdarstellerin Sadaf Asgari, sie habe alle Momente stark mitempfunden, die sie gespielt habe, weil der Film so nah an der Realität aller iranischen Frauen und Mädchen sei: «Das Erste, was ein junges Mädchen im Iran lernt, ist, Dinge zu verstecken und gewisse Sachen nicht zu sagen.»

«Until Tomorrow». Iran/Frankreich/Katar 2022. Regie: Ali Asgari. Jetzt im Kino. Der Kurzfilm «The Baby» ist auf Youtube zu finden.