Frankreichs Gewerkschaften: Laut, aber geschwächt

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Seit Jahren verlieren sie Mitglieder, nun wollen die Gewerkschaften mit dem Protest gegen die Rentenreform Stärke demonstrieren. Für einmal treten sie dabei geeint auf.

Es sei die «Mutter aller Schlachten»: So fasste es Frédéric Souillot, der Generalsekretär des Gewerkschaftsbunds Force Ouvrière, kürzlich zusammen. Bei der Mobilisierung gegen Emmanuel Macrons Rentenreform wollen die grossen Dachverbände an vorderster Front stehen – und das geeint, zum ersten Mal seit zwölf Jahren. Dabei geht es ihnen auch darum, an Profil zu gewinnen. Denn auch wenn sie bei diesem spezifischen Anliegen die Mehrheit der französischen Bevölkerung auf ihrer Seite haben: Um ihre Beziehung zu den Französ:innen steht es nicht zum Besten.

Wenig Vertrauen

Frankreichs Gewerkschaften sind in den letzten Jahrzehnten stark geschrumpft. Punkto Mitgliederzahlen zählen sie auch im europäischen Vergleich zu den Schlusslichtern. Nur etwa 10 Prozent der Beschäftigten sind gewerkschaftlich organisiert; gegen 50 Prozent sind es in Belgien, 33 in Italien, immerhin noch 14 in der Schweiz. Bei den unter Dreissigjährigen liegt der Mitgliederanteil bei den Beschäftigten bei nicht einmal 3 Prozent. Hinzu kommt: In einer Umfrage sprachen letztes Jahr nur 34 Prozent der Französ:innen den Gewerkschaften ihr Vertrauen aus.

Die Gewerkschaftsbewegung sei immer noch stark, wenn es darum gehe, Demonstrationen zu organisieren, sagt dazu der Soziologe Guy Groux von der Pariser Hochschule Sciences Po. «Aber sie hat immer weniger Einfluss auf die Welt der Arbeitnehmenden», so Groux. In ihrem oft militanten, öffentlichkeitswirksamen Auftreten sieht er den Versuch, ihre Schwäche zu kompensieren.

Diese lässt sich auf diverse Gründe zurückführen. Dass heute vielen Französ:innen die Überzeugung für einen Beitritt fehle, hänge aber besonders stark mit der Zersplitterung der Gewerkschaften zusammen, sagt Groux, und diese wiederum gehe auf deren unterschiedliche ideologische Verankerung seit der Gründung zurück. Zudem hafte ihnen bis heute das Bild einer stark politisierten Bewegung an. «Manche Französ:innen haben den Eindruck, sie verteidigen eher ihre Ideologie als die Interessen der Arbeitnehmenden.»

Heute konkurrieren acht grössere Gewerkschaftsverbände um Mitglieder – und vor allem um Stimmen bei Betriebsratswahlen, die als Gradmesser für ihren Rückhalt in den Belegschaften gelten. Die Beteiligung daran ist allerdings rückläufig. Überhaupt verringere sich durch den Mitgliederschwund die gewerkschaftliche Präsenz in vielen Unternehmen, was eine wachsende Distanz zu den Arbeiter:innen schaffe, sagt der Politologe Dominique Andolfatto von der Université de Bourgogne in Dijon. Das sei vor allem im Privatsektor spürbar, wo der gewerkschaftliche Organisationsgrad geringer sei als im öffentlichen Dienst, so der Gewerkschaftsspezialist.

Nicht mehr zeitgemäss

Dass ein Teil der Arbeiter:innen heute nicht auf die Gewerkschaften setzt, um sich zu organisieren, wurde im Dezember deutlich. Damals streikten Kontrolleur:innen der Staatsbahn SNCF für höhere Löhne – und organisierten sich dabei über Social Media, während sie zu den Gewerkschaften auf Distanz gingen. Ähnlich handelt ein Kollektiv von Ärzt:innen, das sich seit Wochen landesweit für bessere Arbeitsbedingungen starkmacht. «Es entwickelt sich eine Gleichgültigkeit gegenüber den Gewerkschaften, deren Vorgehen einigen nicht mehr zeitgemäss scheint», sagt Andolfatto.

Ein Erfolg beim Protest gegen Macrons Rentenreform käme diesen deshalb mehr als gelegen. Und die Chancen darauf dürften nicht zuletzt davon abhängen, ob sie ihre derzeit viel betonte Einheit für einmal aufrechterhalten können.