Durch den Monat mit Nadine Bühlmann (Teil 1): Müssen Sie schon auf Chat GPT reagieren?

Nr. 5 –

Was Kinder fürs Zeitalter der künstlichen Intelligenz überhaupt noch lernen müssen, weiss die Basler Primarlehrerin Nadine Bühlmann.

Nadine Bühlmann in ihrem Schulzimmer
«Wo sehen Sie hier ein Puff? Der Zustand jetzt ist der aufgeräumte Zustand»:
Nadine Bühlmann in ihrem Schulzimmer.

WOZ: Hoppla, ein ziemliches Puff haben Sie hier, Frau Bühlmann. Oder muss das so sein?

Nadine Bühlmann: Wo sehen Sie hier ein Puff?

Sie werden jetzt sagen, das sei Teil des Konzepts. Mein Eindruck ist: Hier wurde schlicht nicht aufgeräumt.

Nicht aufgeräumt?! Das ist wirklich ein Raum, der jeden Tag anders ausschaut. So ist das Konzept. Weil Lernen ganz verschiedene Settings und Zugänge braucht. Wir haben heute Kostüme genäht, und wir basteln Larven für die Fasnacht, dazu braucht es halt viel Material. Darum steht das alles hier drin. Aber es ist interessant zu hören, dass Aufräumen immer noch so eine Tugend ist. Ich glaube: Wo gearbeitet wird, braucht es Material, da fliegen auch Späne.

Aber irgendwann, nach einem langen Schultag, kommt doch der Punkt, wo die Kinder wieder die Sachen wegräumen müssen. Oder nicht?

Aber sicher. Der Zustand jetzt ist der aufgeräumte Zustand. Das ist der Raum der Kinder. Sie müssen hier drinnen ihre Sachen finden und lernen können. Ich und die anderen Lehrpersonen sind hier, damit wir die Kinder in diesem Prozess begleiten können. Kinder brauchen tatsächlich ganz viele Materialien, weil Lernen über die Hände geht. Begreifen kommt von Greifen. Mit einem Buch, das für sich genommen sehr aufgeräumt ist, kann ich arbeiten, aber Lesen alleine führt noch lange nicht dazu, dass ich etwas begreife.

Verständnis entwickelt sich also über das Haptische?

Ja, und über Emotionen. Das kognitive Lernen ist unserer Generation sehr vertraut, weil wir in der Schule darauf trainiert wurden. Und wir haben so viel gelernt, aber wahrscheinlich hat sich die Welt schon ein bisschen verändert. Der Kompetenzbegriff ist nicht mehr derselbe.

Verstehe ich nicht.

Heute reicht es nicht, etwas zu wissen. Der Computer, die künstliche Intelligenz, die wissen alles besser. Im Jahr 2023 rücken neue Kompetenzen in den Vordergrund. Ein Punkt ist die Kreativität. Da kann der Roboter nicht mithalten, da unterscheiden wir uns von den Computern.

Haben Sie die nötigen Freiheiten, Kindern diese neuen Kompetenzen zu vermitteln?

Grundsätzlich haben wir ein Curriculum, den Lehrplan 21. Die ganzen überfachlichen Kompetenzen sind darin genau so wichtig wie die fachlichen. Der Lehrplan 21 gewichtet nicht. Und darüber bin ich sehr glücklich. So kann ich einen zeitgemässen Unterricht entwickeln. Das Fachliche ist nur ein Baustein, ein wichtiger, ohne Zweifel. Aber wenn ich kein Gespräch führen kann, mich nicht ausdrücken kann, dann ist ganz viel von dem, was den Menschen ausmacht und ihn vom Roboter unterscheidet, nicht ausgebildet. Die Fähigkeiten, die uns von den Maschinen abheben, müssen wir ausbilden. Wir sprechen in den Bildungswissenschaften auch von den «vier Ks», die es für das Leben in der digitalisierten Welt braucht: Kommunikation, Kreativität, Kollaboration, kritisches Denken. Wenn ich mir von Chat GPT einen Text schreiben lasse, muss ich den als Mensch kritisch lesen und die Fakten einordnen, Unsinniges erkennen können. Das ist eine Kompetenz, die in Zukunft gefragt ist.

Chat GPT, eine Software, basierend auf künstlicher Intelligenz, ist ganz neu. Müssen Sie darauf in der Primarschule schon reagieren?

Aber ja. Nicht nur die technologische Entwicklung, auch die gesellschaftliche Veränderung verläuft rasant. Ich bin seit drei Jahren in diesem Schulhaus. Wenn ich Revue passieren lasse, was in dieser Zeit passiert ist, staune ich. Ich hätte mir nie vorgestellt, mit einer Maske zu unterrichten oder mit Kindern ins Röhrchen spucken zu müssen. Die Herausforderungen wechseln ständig, und ich muss mich daran anpassen. Kaum war die Pandemie aus den Köpfen raus, fing der Krieg gegen die Ukraine an. Kinder kamen im letzten April in die Schweiz und waren am nächsten Tag schon in der Klasse. Vollintegration von einem Moment zum nächsten. Per Zufall versteht das Kind, das zu uns kam, auch Türkisch. Viele Kinder in unserer Klasse sprechen Türkisch – und übersetzen für mich. Solche Tools (zeigt auf das Handy) sind eine grosse Erleichterung, um mit den Kindern zu kommunizieren. Anpassungsleistungen sind enorm wichtig. Deshalb liebe ich diesen Job.

Weil Sie sich auch immer verändern müssen?

Ja, genau. Wir hatten ein Kind mit extrem traumatischen Erlebnissen, die es auf der Flucht erlitten hatte. Jedes Mal, wenn draussen eine Putzmaschine durchfuhr, fing es an zu schreien. So ein Schreien hatte noch niemand von uns je gehört.

Da sind Sie auch überfordert.

Total, da musste ich mir Hilfe holen. Und die bekam ich auch extrem schnell. Ich erhielt eine qualifizierte Assistentin, die Russisch spricht und so das Kind auffangen konnte. Das war eine riesige Entlastung für uns alle. Das Kind hat jetzt zum Glück einen Therapieplatz in der psychiatrischen Klinik bekommen.

Nadine Bühlmann (46) war viele Jahre Schulleiterin. Nun unterrichtet sie eine dritte Primarklasse im Kleinbasler Vogelsangschulhaus. Nächste Woche spricht sie über die angeblich grassierende Gewalt gegen Lehrer:innen – und die Gewalttätigkeit des Systems Schule.