Kino: Zart wie ein Bodycheck

Nr. 5 –

Der junge Belgier Lukas Dhont wird für seine angeblich so sensiblen Filme gefeiert. Mit «Close» ist er jetzt erstmals auch für den Oscar nominiert. Aber wieso eigentlich?

Filmstill aus «Close»: Léo (Eden Dambrine) mit Hockeyhelm im Eisstadion
Keine Lust auf Blumen und Oboe: Léo (Eden Dambrine) im Eisstadion auf der Suche nach gröberer Männlichkeit. Still: Filmcoopi

Grosser Preis der Jury in Cannes, feierliche Kritiken, womöglich bald ein Oscar – und überall dort, wo jetzt der Spielfilm «Close» bejubelt wird, fallen unweigerlich auch Attribute wie «zart» und «sensibel». Aber das ist ein Missverständnis. Zart und sensibel, das mag auf die beiden jugendlichen Hauptfiguren zutreffen, der Film selber tut nur so. Dabei ist er ziemlich das Gegenteil.

Es fängt gleich schon mit einem schiefen Ton an. Erste Szene: Wir sehen die zwei Freunde Léo und Rémi beim Spielen. In einem baufälligen Gemäuer gehen die Buben in Deckung, belagert von einem imaginären Feind. Danach rennen sie übermütig durch blühende Felder. Und diese beiden Jungs sollen dreizehn Jahre alt sein, wie der Film behauptet? So, wie die hier spielen, sind sie höchstens neun oder zehn.

Was will uns das sagen? Dass diese beiden Buben in ihrer Entwicklung noch nicht ganz so weit sind? Aber vielleicht ist es auch nur ein Indiz dafür, dass sich Regisseur Lukas Dhont wohl nicht so gut auskennt, wenn es um altersspezifisches Verhalten seiner Figuren geht.

Was soll das heissen, ein Paar?

Klar, genau das ist das Thema von «Close», zumindest in der ersten Hälfte des Films: dieses Schlingern beim Übergang vom Kind zum Jugendlichen, mit allen Unsicherheiten, die man sich unterwegs so einhandelt. Diese ungemein enge Freundschaft zwischen Léo (Eden Dambrine) und Rémi (Gustav De Waele), die der Film zu Beginn tatsächlich sehr schön einfängt, phänomenal gespielt von beiden Darstellern: Wird das so bleiben, wenn die beiden nach den Sommerferien in die Oberstufe wechseln, in ein neues Umfeld, mit neuen sozialen Rollen, anderen Regeln? Gerade jetzt, wo die Nähe zwischen den zwei Buben, die auch regelmässig im gleichen Bett schlafen, sich nochmals verwandeln könnte: weniger unverfänglich vielleicht, aber, wer weiss, dafür noch inniger.

Zuschreibungen sind oft eine Form von Gewalt, auch dann, wenn sie als arglose Frage daherkommen: «Seid ihr eigentlich zusammen?», fragt ein Mädchen die beiden in der neuen Klasse. Es denkt sich wohl gar nichts dabei und bringt doch das feine Gefüge zwischen Léo und Rémi spürbar durcheinander, mit wenigen Worten und ohne böse Absichten. Was soll das heissen, zusammen? Ob sie ein Paar sind? Léo weist das klar und deutlich von sich, Rémi sitzt daneben und sagt nichts.

Fortan geht Léo zu Rémi auf Distanz, vor den Blicken der anderen in der Schule. Er sucht Anschluss bei den gröberen Jungs, geht neuerdings ins Eishockey. Schon hier sind die Gegensätze, mit denen «Close» hantiert, etwas schablonenhaft: Léo, dessen Eltern eine Blumenplantage bewirtschaften, schlittert auf dem Eis in eine härtere Form von Männlichkeit, Rémi bleibt der zarte Bub mit der Oboe.

Dennoch, die feinen Dynamiken solcher Aus- und Abgrenzungen leuchtet der Film sorgfältig aus. Warum fällt es bei Buben auf, wenn sie einander körperlich nahe sind, der eine seinen Kopf auf den Bauch des anderen legt? Warum ist es Léo peinlich, wenn Rémi ihm beim Training zuschaut? Duldet die Art von Männlichkeit, wie sie im Eishockey eingeübt wird, keinen Freund wie Rémi hinter der Bande? Doch auch im Bett, wo es sonst gar niemand sieht, dreht sich Léo von ihm weg. Rémi ist zusehends verletzt – bis seine Verzweiflung auf dem Pausenplatz aufbricht.

«C’est fini», sagt die Betreuerin, die Rémi dann zurückhält, «es ist vorbei.» Sie meint natürlich nur die Rangelei. Aber ihre Sätze sind auch etwas durchsichtig darauf hingeschrieben, dass er sie viel grundsätzlicher missverstehen kann. Dann ein Schnitt, und wir sehen Beete von verblühten Blumen, die nachts von einem Mähdrescher massakriert werden. Subtil?

Ein brachiales Manöver

Dann aber greift Lukas Dhont zum Hammer. Und nach dem ersten Schock legen sich hauchzarte Klänge über die weichgezeichneten Bilder. Mit allen Mitteln simuliert der Film hier eine Empfindsamkeit, die kaschieren soll, was für ein brachiales Manöver der Autor und Regisseur gerade vollzogen hat.

In dieser Hinsicht ist der 31-Jährige ein Wiederholungstäter. Sein ebenfalls gefeierter Erstling, das Transgenderdrama «Girl» (2018), gipfelte in einer notorisch gewordenen Szene, in der die jugendliche Hauptfigur in ihrer Verzweiflung versucht, sich mit einer Schere eigenhändig den Penis zu amputieren. Die Trans-Community reagierte entsetzt. Nachdem der Film mit dem Blick auf die Genitalien der jungen trans Frau wiederholt die voyeuristische Neugier eines Cis-Publikums bedient hat, treibt er die Identitätsfindung seiner Protagonistin mit diesem drastischen Akt der Selbstverstümmelung auch noch auf die denkbar schlimmste Wendung zu: eine allein auf den Effekt hin geschriebene Drehbuchfantasie fern der Realität.

Jetzt, in «Close», räumt Dhont nach knapp fünfzig Minuten einen seiner beiden Protagonisten einfach aus dem Weg – und wiederum auf eine Weise, die so gut wie nichts mit der sozialen Wirklichkeit der betreffenden Altersgruppe zu tun hat. Gewiss, wir sind hier in der Fiktion, ein Spielfilm muss keinen statistischen Wahrscheinlichkeiten gehorchen. Aber dass Dhont mit seinem abenteuerlichen Manöver davonkommt, hat auch damit zu tun, dass die meisten Kritiken dieses aus falscher Rücksichtnahme höchstens indirekt zu erwähnen wagen: Spoilerpanik.

Aus dem Drama gemogelt

Dies hier ist also eher eine Triggerwarnung als ein Spoiler: «Close» ist ein Film, der das Tabuthema Jugendsuizid als dramaturgisches Alibi instrumentalisiert. (Suizidrate bei Dreizehnjährigen: verschwindend tief.) Das Problem daran ist nicht einmal, dass es eine manipulative Wendung wäre. Das Problem ist, dass diese Wendung letztlich stereotype Vorstellungen von Suizid als einem «einfachen Ausweg» zementiert, als ultimative Flucht aus einer scheinbar ausweglosen Lage – weil der Film das Motiv des Suizids seinerseits als billigen Ausweg benutzt.

Dhont scheut das Drama, das sich zwischen seinen beiden Hauptfiguren anbahnt, sobald ihre Freundschaft, ihre erwachende Männlichkeit und ihre vielleicht queere Identität mit dem neuen sozialen Umfeld kollidieren. Das ist das alltägliche, wirklich ergreifende, vielleicht unlösbare Drama in diesem Film – aber sobald es sich verschärft, mogelt sich Dhont heraus, indem er diesen Konflikt unter einer viel grösseren, unaussprechlichen Ersatztragödie begräbt, die alles andere in den Schatten stellt. Eine Drehbuchfantasie fern der Realität – allein auf maximalen Effekt hin geschrieben.

«Close». Regie: Lukas Dhont. Belgien 2022. Ab 2. Februar 2023 im Kino.

Spoilerpanik : Oder ist das eine Triggerwarnung?

Wenn das Bedürfnis nach Triggerwarnungen problematisiert wird, werden diese gern als Ausdruck übertriebener Empfindlichkeit dargestellt. Nach der Logik: Wie soll Kunst uns noch erschüttern können, wenn sie immer schon im Vorfeld von Warnhinweisen abgefedert wird? Dabei geht vergessen, dass kurioserweise auch in der umgekehrten Richtung eine neue Empfindlichkeit um sich greift: die Angst vor Spoilern.

Auf der einen Seite steht also die Sorge davor, man könnte auf etwas nicht gefasst sein, auf der anderen Seite die Angst, es könnte vorab schon zu viel preisgegeben werden. Es sind zwei kulturelle Obsessionen unserer Zeit, die hier miteinander im Clinch liegen. So blendet Netflix standardmässig Triggerwarnungen ein. Beim Historienfilm «The Wonder» heisst es zum Beispiel: «Hinweise auf Kindsmisshandlung, sexuelle Gewalt». Schon nach einer Viertelstunde zeigt sich: Das ist auch ein Spoiler, weil man gewisse Andeutungen so viel früher entschlüsselt.

Triggerwarnungen können traumatische Erfahrungen mildern, aber eine Auseinandersetzung mit einem Werk verhindern sie nicht. Mit der Spoilerpanik verhält es sich eher umgekehrt, wie das Beispiel «Close» zeigt: Der Film entzieht sich jeder vertieften Auseinandersetzung, wenn man sich entscheidet, seine zentrale Wendung nicht preiszugeben.