Politische Theorie: Der Fantasie die Sporen geben

Nr. 5 –

Wie könnte der Übergang in den Postkapitalismus doch noch gelingen? Drei Neuerscheinungen zur Idee des Sozialismus regen zu Experimenten an.

Kaum jemand bekennt sich noch offen zum Sozialismus, zu oft ist er gescheitert, immer wieder. In Russland ist von der untergegangenen Sowjetunion nicht viel mehr als die Sehnsucht nach imperialer Grösse geblieben: ein Albtraum nicht nur für die Ukraine und Europa. Dennoch gibt es wieder eine Sozialismusdiskussion.

Manche flüchten sich dabei in Traditionspflege – so wie Frank Deppe, einer der letzten Repräsentanten der marxistischen «Marburger Schule», mit seinem historischen Rückblick. Dieser gelingt dem Politikwissenschaftler nur zum Teil, weil er der apologetischen Sicht vieler Kommunist:innen auf den verblichenen «real existierenden» Sozialismus Zugeständnisse macht. Viele Erfahrungen und Leistungen der nichtkommunistischen Linken werden zwar genannt, aber als Alternativen zu Programm und Praxis des Kommunismus nicht ernst genommen.

Lähmende Blockaden

Mutiger geht da Michael Brie vor. In der DDR war er ein junger und rebellischer Philosoph, seit den neunziger Jahren hat er als Vordenker der Partei des Demokratischen Sozialismus und der Partei Die Linke eine zentrale Rolle gespielt, die Rosa-Luxemburg-Stiftung verdankt ihm viel. Auch Leute, die mit Sozialismus nichts mehr anfangen können, dürften sein kleines Buch mit Gewinn lesen. Wer sich heute noch als Sozialist:in bezeichnet, sollte es sowieso lesen. Brie räumt darin mit vielen Denkblockaden auf, die die Linke lähmen. Ohne einen klaren Begriff vom Kapitalismus, ohne eine stimmige Kritik an diesem kann man von Sozialismus nicht sinnvoll reden, stellt er klar. Doch genau daran fehlt es bei den meisten der Utopien, die heute in Umlauf sind.

Brie räumt etwa mit der naiven Vorstellung auf, dass der Kapitalismus am Ende sei und dass die Linken selbstverständlich ein überlegenes Wirtschafts- und Gesellschaftssystem verträten. Dem ist leider nicht so: Eine durchdachte Alternative, konkrete Antworten auf konkrete Gegenwartsprobleme, ein realistisches Konzept für die grosse Transformation vom real existierenden Kapitalismus zu einer postkapitalistischen Gesellschaft – alles Fehlanzeige.

Karl Marx weigerte sich zeitlebens, «Rezepte für die Garküche der Zukunft» zu verbreiten. Die Frage, was die Sozialisten oder Kommunistinnen in der Zukunft tun sollten, um über den Kapitalismus hinauszugehen, hielt er für ein Phantomproblem. Dieses marxsche «Bilderverbot» ist überholt. Wir kennen die Umstände, unter denen wir handeln müssen. Und wir kennen auch die Gründe für das Scheitern verschiedener sozialistischer Varianten.

In den Köpfen vieler Sozialist:innen spukt trotzdem bis heute eine Vorstellung vom Sozialismus als einer Gesellschaft, in der alle individuellen und kollektiven Interessen zusammenfallen, sodass sich alle Gegensätze, alle Widersprüche, alle Konflikte in Wohlgefallen auflösen. Derlei kann keine hochkomplexe Gesellschaft erreichen. Statt ein Reich der immerwährenden Harmonie zu versprechen, sollten Sozialist:innen vielmehr über alte und neue Vermittlungsformen nachdenken, in denen sich Interessengegensätze und Konflikte austragen lassen.

Das «Reich der Freiheit»

Nehmen wir mit Brie an, dass Marx recht hatte: Die Veränderungen, die über den Kapitalismus hinausweisen, beginnen bereits in der kapitalistischen Gegenwart. Einen abrupten «Sprung» ins «Reich der Freiheit» kann es also nicht geben, nur einen langen, verwickelten Transformationsprozess mit unsicherem Ausgang. Dabei gilt es, die vielerlei Bedingungen der «Freiheit in einer komplexen Gesellschaft» (Karl Polanyi) herzustellen.

Es geht Brie also um neue Institutionen, um institutionelle Reformen, um soziale Experimente. Daraus folgt, dass gerade ein Sozialismus eine Vielzahl und Vielfalt von Akteur:innen, von sozialen Beziehungen und institutionalisierten Verkehrsformen braucht. Simple Gegensätze wie Markt versus Staat oder Plan versus Markt verdecken nur den Blick auf die wahren Herausforderungen. Sozialist:innen sollten sich etwas einfallen lassen, ihre soziale und ökonomische Imaginationskraft spielen lassen: also etwa neu denken, was «Reichtum» in einer postkapitalistischen Gesellschaft bedeuten könnte. Wie schafft man einen Reichtum für viele, tendenziell für alle, ohne die Freiheit der Einzelnen zu erdrücken?

Brie gibt seiner Fantasie die Sporen und erlaubt sich, nicht nur eine Menge neuer Eigentums- und Besitzformen zu erwägen, sondern auch Regulierungs- und Vermittlungsformen, die eine derart komplexe Gesellschaft zusammenhalten könnten. Warum sollte man etwa auf (regulierte) Märkte verzichten – gerade dann, wenn doch vieles von dem, was der Mensch braucht, den Märkten entzogen und einer anders organisierten und anders normierten sozialen Kontrolle unterworfen werden könnte? Und warum sollte man darauf verzichten, «abstrakte Wertformen» (Preise, Löhne, Zinsen) als Vermittlungsformen zu nutzen, um einen gesellschaftlichen Zusammenhang herzustellen?

Schliesslich die schwierigste Frage: Was könnten adäquate politische Formen für eine solche grosse Transformation sein? Und wie liessen sich gesellschaftliche Konflikte austragen, die dabei – und danach – entstehen? Zu Recht erinnert Brie an Jean-Jacques Rousseaus Unterscheidung zwischen Mehrheitswillen und Gesamtwillen, die nicht ohne Weiteres übereinstimmen. Und er diskutiert, wie man diesem Gesamtwillen auf demokratische Weise Gehör und Gewicht verleihen könnte.

Plural und experimentierfreudig

So sieht es auch Dieter Klein, der als einer der wenigen DDR-Professoren in Berlin auch nach dem Mauerfall politische Ökonomie lehren konnte und seit seiner Emeritierung für die Rosa-Luxemburg-Stiftung die Transformationen der Gegenwart und der Zukunft erforscht. In seinem neuen Buch spielt Klein eine Reihe von Vorschlägen durch und entwirft Gedankenexperimente, um mögliche Formen gesellschaftlicher Regulierung in einer postkapitalistischen Gesellschaft näher zu bestimmen.

Dazu braucht es Vorstellungskraft und Ideen, gepaart mit Experimenten und Erfahrungen. Diese gibt es weltweit, zum Beispiel in der Genossenschaftsbewegung, der grössten sozialen Bewegung unserer Zeit. Überhaupt ist Klein offen für all die Vorschläge, die heute in der Linken diskutiert werden: vom Grundeinkommen bis zur Gemeinwohlökonomie. Wie Brie plädiert er für einen pluralen Sozialismus, der genau von einer solchen sozialen Experimentierfreudigkeit leben müsste. Sozialismus als eine experimentelle, durch Experimente lernende Gesellschaft zu bestimmen, passt gut in ein skeptisches Zeitalter.

Buchcover von «Sozialismus. Geburt und Aufschwung – Widersprüche und Niedergang – Perspektiven»

Frank Deppe: «Sozialismus. Geburt und Aufschwung – Widersprüche und Niedergang – Perspektiven». VSA Verlag. Hamburg 2021. 400 Seiten. 44 Franken.

Buchcover von «Sozialismus neu entdecken.  Ein hellblaues Bändchen von der Utopie zur Wissenschaft und zur Grossen Transformation»

Michael Brie: «Sozialismus neu entdecken. Ein hellblaues Bändchen von der Utopie zur Wissenschaft und zur Grossen Transformation». VSA Verlag. Hamburg 2022. 176 Seiten. 22 Franken.

Buchcover von «Regulation in einer solidarischen Gesellschaft. Wie eine sozial-ökologische Transformation funktionieren könnte»

Dieter Klein: «Regulation in einer solidarischen Gesellschaft. Wie eine sozial-ökologische Transformation funktionieren könnte». VSA Verlag. Hamburg 2022. 240 Seiten. 26 Franken.