Erdoğan forever?

Le Monde diplomatique –

Trotz Wirtschaftskrise könnte der türkische Autokrat wieder die Wahlen gewinnen

Recep Tayyip Erdoğan an einer Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats, 25. Januar 2023
Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats, 25. Januar 2023 Foto: MUSTAFA KAMACI/picture alliance/AA

Ende Oktober feiert die Türkische Republik ihr hundertjähriges Bestehen. Doch das Jahr 2023 ist auch in anderer Hinsicht von höchster Bedeutung: Am 14. Mai werden sowohl Präsidentschafts- als auch Parlamentswahlen stattfinden, deren Ausgang darüber entscheidet, welchen Weg die Türkei einschlagen und wie sie ihr Verhältnis zum Rest der Welt gestalten will.

Dass die Jahrhundertfeier mit einem Wahljahr zusammenfällt, ist bereits einer der fünf maßgeblichen Gründe, warum Recep Tayyip Erdoğan aus dieser Wahl erneut als Sieger hervorgehen könnte. Nach dem ideologischen Weltbild des Präsidenten würde seine Wiederwahl im Jubiläumsjahr seinem Land und der ganzen Welt die Botschaft vermitteln, dass die „Neue Türkei“ – als Gegenentwurf zu der von Mustafa Kemal Atatürk geschaffenen „alten Türkei“ – mittlerweile fest und dauerhaft etabliert ist.

Der Wahltag soll also zum symbolischen Datum werden, an dem das Regime den Erfolg seiner Politik der „Entwestlichung“ zelebriert – und damit Erdoğans Anspruch, die historische Leitfigur Atatürk in den Schatten zu stellen.

Für den politischen Islam in der Türkei ist 2023 das symbolische Pendant zum Jahr 1923, das mit der Gründung des türkischen Nationalstaats eine bereits seit Beginn des 19. Jahrhunderts voranschreitende „Verwestlichung“ zementierte. Für Erdoğan und seine politische Gefolgschaft soll 2023 also zum Jubeljahr der Revanche werden, zum Beginn einer nationalen Wiedergeburt, die das Regime in ihrer kruden antiwestlichen Rhetorik bereits seit einiger Zeit mit dem Begriff „türkisches Jahrhundert“ feiert.

Aber auch Erdoğan persönlich steht unter Druck, diese Wahlen zu gewinnen. Denn sollte er sie verlieren, müsste er sich höchstwahrscheinlich vor einem Strafgerichtshof für zahllose verfassungs- und gesetzwidrige Handlungen verantworten, die er während seiner 20-jährigen Amtszeit – als Ministerpräsident und als Staatspräsident – begangen hat.

Eine Strafverfolgung droht ihm unter Umständen auch durch den Internationalen Strafgerichtshof wegen seiner Militäraktionen im Irak, in Libyen und in Syrien. Hinzu kommt der durch zahlreiche Indizien gestützte Verdacht, dass die Türkei als Unterstützerin der dschihadistischen Terrororganisation Islamischer Staat (IS) agiert.

Aus all diesen Gründen kann Erdoğan nicht riskieren, seine Macht und mit ihr seine Immunität zu verlieren. Er wird sich also auf keinen echten und fairen Wahlkampf einlassen, den er auch verlieren könnte.

Es gibt eine zweite Gruppe von Gründen, die Erdoğans Wiederwahl begünstigen. Sie haben mit den Fehlern und Versäumnissen der nationalistischen Oppositionsparteien zu tun, die außerstande sind, sich hinter einem starken Gegenkandidaten zu vereinen. Bislang hat sich keine Führungsfigur profiliert, die es mit Erdoğan und seinem unbestreitbaren Charisma, mit dem er auch jenseits seiner Stammwählerschaft ankommt, aufnehmen könnte.

Dennoch geht der Staatspräsident auf Nummer sicher: Die jüngste Justizfarce, mit der Ekrem İmamoğlu, der Bürgermeister von Istanbul, als möglicher Gegenkandidat ausgeschaltet werden sollte1, ist der letzte Beweis für Erdoğans Entschlossenheit, kein Risiko einzugehen.

Des Weiteren machen die Oppositionsparteien den Fehler, ihr gemeinsames „Programm“ im Wesentlichen auf zwei Punkte zu reduzieren: Erstens will man Erdoğan loswerden und zweitens den Eindruck vermeiden, man mache gemeinsame Sache mit der links-kurdischen Partei HDP und generell mit den Kurden.

Im Grunde setzt die Opposition einzig darauf, dass die herrschende Koalition aus Erdoğans AKP und der rechtsextremen MHP die Wahlen verliert, statt alles zu tun, um sie zu gewinnen. Das reicht aber nicht aus, um die vielen Unzufriedenen zu überzeugen, insbesondere die Jugend und die Wählerinnen und Wähler der HDP.

Großzügige Hilfe aus Nahost und Russland

Ein besonderes Problem ist das schwächste Glied in den Reihen der Opposition, die İyi Parti (Gute Partei). Programmatisch ist sie ein Avatar der MHP, weshalb befürchtet wird, sie könnte nach den Wahlen die Seiten wechseln und sich der AKP als Koalitionspartner andienen.

Auch außenpolitisch hat Erdoğan beste Chancen, die Opposition auszustechen, die auf diesem Gebiet mindestens ebenso militante Töne anschlägt wie die Regierung. Doch dieses aggressive Gehabe kann Erdoğan schlicht ins Leere laufen lassen, indem er bis zu den Wahlen weitere militärische Operationen gegen die Kurden im Norden Syriens anordnet oder womöglich sogar den Norden Zyperns annektiert. Überdies könnte er einen Teil der in der Türkei lebenden syrischen Flüchtlinge in die türkisch besetzten Gebiete in Syrien abschieben, womit er auch die wachsende Antiflüchtlingsstimmung in der Bevölkerung bedienen würde.

Das dritte Bündel von Gründen, die Erdoğan die Wiederwahl sichern könnten, hat mit seiner eigenen Gefolgschaft zu tun. Die Motive der AKP-Anhänger sind keineswegs nur opportunistisch und lassen sich nicht auf den verbreiteten Klientelismus reduzieren, der über ein in 20 Regierungsjahren geschaffenes Netzwerk von Wohlfahrtsorganisationen bedient wird. Vielmehr ist die Masse der Erdoğan-Anhänger auch mit dessen undemokratischen Usancen und diktatorischen Regierungsmethoden vollkommen einverstanden.

Selbst diejenigen, die mit der wirtschaftlichen Lage unzufrieden sind, sehen keine Alternative zu Erdoğan. Im Zuge des Wahlkampfs hat Erdoğan die gesamte Wirtschaftspolitik auf das Ziel ausgerichtet, den Eindruck von allgemeinem Wohlstand vorzugaukeln. Wobei die Wahlgeschenke für die eigene Gefolgschaft großenteils von ausländischen Unterstützern finanziert sind.

Der vierte Grund für Erdoğans Siegesaussichten ist genau diese Unterstützung aus dem Ausland. Sowohl die Öldynastien im Nahen Osten als auch Russland gewähren der darbenden türkischen Wirtschaft großzügige Hilfen, um die Wiederwahl ihres Favoriten zu sichern.2 Besonders bemerkenswert ist das Wohlwollen Wladimir Putins, der die einmalige Chance sieht, durch seine Förderung des türkischen Störenfrieds auch die Zwietracht innerhalb der Nato zu fördern.

Allerdings sind es nicht nur undemokratische Staaten, die Erdoğan unterstützen. Das tun indirekt auch westliche Politiker, die unter Verweis auf fiktive „legitime Sicherheitserwägungen“ für das aggressive und autokratische Verhalten des Regimes im Innern wie nach außen „Verständnis“ aufbringen. Erdoğans bizarre Auftritte, mal als Wüterich, mal in der Opferrolle, seine Drohungen gegen den Nato-Partner Griechenland3, seine militärischen Operationen gegen die Kurden im Irak und in Syrien – all dies bemühen sich die Erdoğan-Freunde in den USA, in der Nato und allgemein im Westen zu „verstehen“. Die gleiche Nachsicht üben sie gegenüber der Russland-Politik des türkischen Präsidenten. Einerseits unterstützt Erdoğan Putin ökonomisch, andererseits gibt er sich als Freund der Ukraine aus.4

Letzten Endes ist der Westen angesichts von Erdoğans Kanonenbootdiplomatie, seinem außenpolitischen Unilateralismus und seinem Hang zum „doppelten Spiel“ erstaunlich machtlos. Seit Jahren verfolgt man gegenüber Ankara eine Appeasementpolitik, für die insbesondere zwei Interessen bestimmend sind: Zum Ersten will man um jeden Preis sicherstellen, dass die Türkei in der Nato bleibt, also der „russischen Versuchung“ widersteht. Und zum Zweiten soll die Erdoğan-Regierung weiter ihre Aufgabe wahrnehmen, die sie nach dem Flüchtlingsabkommen vom März 2016 übernommen hat, nämlich die in die Türkei gelangten Geflüchteten von der Europäischen Union fernzuhalten.

Dass Erdoğan gute Chancen hat, im Mai die Wahlen zu gewinnen, liegt schließlich auch daran, dass er über das nötige innenpolitische Instrumentarium verfügt, um diese in seinem Sinne zu manipulieren: Die oberste Wahlbehörde ist ihm hörig, der Zuschnitt der Wahlkreise begünstigt die AKP, und er profitiert von neuen gesetzlichen Einschränkungen des Wahlrechts.

In dieser Hinsicht bleibt nichts dem Zufall überlassen. Der erste Schritt, die Besetzung des Hohen Wahlausschusses (YSK) mit regimefreundlichen Richtern, ist bereits vollzogen. Dasselbe gilt für Wahlkommissionen, die den YSK auf lokaler Ebene vertreten.

Was die Parlamentswahlen betrifft, so können der YSK und die Wahlkommissionen einen Kandidaten oder eine Kandidatin unter jedem beliebigen Vorwand ablehnen und sogar die Nominierung von Ersatzkandidat:innen verweigern. Damit kann die Opposition in bestimmten Wahlkreisen daran gehindert werden, überhaupt anzutreten.

Natürlich werden auch die knapp 2 Millionen Menschen, die das Land seit dem obskuren Staatsstreich vom Juli 2016 verlassen haben, nicht wählen können; ebenso wie viele der 2,5 Millionen Studierenden, die erstmals wahlberechtigt sind. Denn laut Wahlgesetz müssen sie mindestens drei Monate an ihrem Aufenthaltsort gemeldet sein. Erdoğan weiß, dass sein Regime bei der sogenannten Generation Z kaum Rückhalt hat, bei den jungen Leuten also, die sich für die Umwelt oder die Rechte der queeren Community engagieren. Das erklärt auch, warum das Innenministerium seit September 2020 die offizielle Zulassung der Grünen Partei unter allen möglichen Vorwänden verzögert. Derselben Logik folgen die Pläne des Regimes, die HDP zu verbieten und deren Kandidaten auszuschließen.

Mit der Auszählung der Stimmen hat der Wahlausschuss das IT-Unternehmen Havelsan betraut, das zur „Stiftung der türkischen Streitkräfte“ (Türk Silahlı Kuvvetlerini Güçlendirme Vakfı) gehört – einer Holdinggesellschaft des türkischen Militärs. Damit sind der Manipulation Tür und Tor geöffnet, zumal die Entscheidungen des YSK nicht angefochten werden können.5

Eine entscheidende Rolle bei den Wahlen spielen auch das Innen- und das Justizministerium. Das Festhalten an Innenminister Süleyman Soylu, der seit 2016 im Amt ist, und die Bestellung des radikalen Erdoğan-Günstlings Bekir Bozdağ zum Justizminister im Januar 2022 machen klar, dass das Regime die Wahlen wie das Land unter Kontrolle behalten will.

Der terroristische Anschlag im Zentrum von Istanbul am 14. November 2022, hinter dem höchstwahrscheinlich Sicherheitsapparat und Geheimdienst stecken, lässt weitere provokative Gewalttaten im Vorfeld der Wahlen befürchten. Erdoğan gebietet nicht nur über die Polizei, sondern auch über verschiedene irreguläre bewaffnete Gruppierungen.

Der Wahlkampf 2023 wird nicht zuletzt als Informationskrieg ausgetragen. Das im Oktober 2022 verabschiedete Gesetz über die Zensur der sozialen Medien lässt auch hier nichts Gutes erwarten. Die NGO Human Rights Watch befürchtet, dass die türkische Regierung mit dem Gesetz alle Online-Stimmen mundtot machen will, die sich kritisch über Erdoğan äußern.

In der Frage der Medienpräsenz ist Erdoğan auch deswegen klar im Vorteil, weil die Regierung die wichtigste Informationsquelle – das Fernsehen – monopolisiert. Die türkischen TV-Kanäle stehen fast ausnahmslos unter Kontrolle der Regierung. Laut Reporter ohne Grenzen (ROG) gilt das für 90 Prozent aller Medien im Land. Auch deshalb steht die Türkei auf der ROG-Rangliste der Pressefreiheit nur auf Platz 149 von 180 erfassten Ländern.

Trotz alledem kultiviert die Opposition im Hinblick auf die Wahlen eine maßlose und ständig wachsende Zuversicht. Doch am kommenden 14. Mai – an dem Tag jährt sich im Übrigen auch die erste Wahlniederlage der kemalistischen CHP von 19506 – könnte sie eine grausame Enttäuschung erleben. Aber selbst wenn sie wie durch ein Wunder gewinnen sollte, wird es für die gigantischen Probleme, die der Türkei noch auf Jahrzehnte hinaus zu schaffen machen werden, keine schnelle Lösung geben.

1 İmamoğlu wurde im Dezember wegen Beleidigung der Wahlkommission zu einer Haftstrafe verurteilt. Zudem verhängte das Gericht ein Politikverbot. Da İmamoğlu Berufung eingelegt hat, ist unklar, ob das Urteil noch vor der Wahl rechtskräftig wird.

2 Zudem gibt es fundierte Gerüchte über verdeckte Geldzuflüsse aus Moskau.

3 Siehe Niels Kadritzke, „Ägäis-Streit und kein Land in Sicht“, Griechenland-Blog auf monde-diplomatique.de, 21. Juli 2022.

4 Günter Seufert, „Profiteur der Stunde“, LMd, Juli 2022.

5 Zum Vertrag zwischen YSK und Havelsan siehe den Bericht der türkischen Wirtschaftswebsite BThaber vom 6. Februar 2022: Ayhan Sevgi, „A strong data center in cyber security being established in YSK“.

6 Am 14. Mai 1950 gewann Adlan Menderes mit seiner Demokratischen Partei (DP) die Parlamentswahlen mit absoluter Mehrheit. Er führte als Ministerpräsident mehrere Regierungen, bis er im Mai 1960 durch einen Militärputsch entmachtet und wegen „Hochverrats“ am 17. September 1961 gehängt wurde.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Cengiz Aktar lehrt politische Wissenschaften an der Universität Athen. 2021 erschien sein Buch „Die türkische Malaise“ (Kolchis Verlag).

LMd, Berlin