Erwachet!: Verkehrte Welt

Nr. 6 –

Michelle Steinbeck ist dem Unsichtbaren auf der Spur

«Menstruation, Schwangerschaft, Eierstockzysten, Menopause, Endometriose – was kriegen eigentlich Männer?» – «Die ganze Forschung.» So unterhalten sich zwei Ärztinnen in der wohl ikonischsten Spitalserie aller Zeiten.

Vom Gendergap in der Medizin handelt auch der Kurzfilm der Zürcher Ethnologiestudentin Lynn Kohli. In «chronisch unsichtbar» erzählen junge Männer von «ihren» Endometriose-Symptomen und einem Alltag, der von Schmerzen dominiert ist: «Ich kann nicht arbeiten gehen, ohne täglich mehrere Schmerzmittel zu schlucken. Und auch dann spüre ich die Schmerzen noch immer.» Sie berichten von der Schwierigkeit, angemessene medizinische Beratung zu finden: «Ich war bei sieben Ärzt:innen. Mein Hausarzt sagte mir, meine Schmerzen kommen vom Stress. Aber zu dieser Zeit hatte ich gar keinen Stress.»

Die Männer äussern das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden: «Meine Beschwerden wurden kleingeredet, man sagte mir, ich hätte ein psychisches Problem.» Mit der Diagnose, die meist erst nach mehreren Jahren erfolgt, stelle sich eine gewisse Erleichterung ein: «Ich dachte jahrelang, dass das normale Schmerzen sind.» Aber die Gewissheit mache auch ohnmächtig: «Die Diagnose ist ein hilfloser Zustand, weil es keine Heilung gibt.»

Die Realität bricht unmissverständlich in den Film ein, als einer der Protagonisten sagt: «Durch den Alltag komme ich mit Medikamenten», und sich beim Runterbeten der ellenlangen Liste verhaspelt. Er lächelt verlegen: «Oh mein Gott.» Er beginnt von vorn, liest konzentriert ab, um dann wie unwillkürlich zu kommentieren: «Damn. Das sind huere vill Medikament. Krass. Ja.»

Um die genderbasierte Diskriminierung im Umgang mit sogenannten Frauenkrankheiten und ihren Einfluss auf den mangelhaften Wissensstand über Endometriose deutlich zu machen, verarbeitete Lynn Kohli eine Umfrage mit achtzig Betroffenen zu Ich-Erzählungen, die sie von jungen Männern in die Kamera sprechen liess. «Meine Ärztin schlug mir vor, Kinder zu bekommen», erzählt einer. Und ein anderer liest ab: «Nach der Operation empfahl mein Arzt eine Schwangerschaft als temporäre Therapiemethode.» Er runzelt die Stirn: «Wow.» Wenig später wird er in die Kamera sagen: «Wenn Endometriose eine ‹Männerkrankheit› wäre, gäbe es längst viel einfachere Methoden für eine Diagnose oder viel bessere Behandlungen.»

Während im Herbst an der Uni Bern eine Hoffnung verheissende Studie zur Entwicklung einer vereinfachten Diagnosestellung für Endometriose publiziert wurde, ist im Nationalrat die Motion für eine schweizweite Sensibilisierungs- und Aufklärungskampagne seit fast einem Jahr hängig. Der Bundesrat hat die Motion abgelehnt, unter anderem mit der Erklärung, dass Gynäkolog:innen in der Schweiz bereits gut über die Krankheit informiert seien – eine Behauptung, der die Betroffenenberichte im Film vehement widersprechen.

Über Endometriose kursieren bis in fachmedizinische Kreise unzählige Falschinformationen, die zu Fehldiagnosen und -behandlungen führen. Zu den oft unaushaltbaren Schmerzen der Betroffenen kommt das gähnende Unwissen über diese chronische Krankheit, an der weltweit 190 Millionen Menschen, meist Frauen, leiden. Das Drucken und Verteilen von ein paar informativen Broschüren wäre ein kleiner, wirksamer Schritt, den sich selbst die Schweiz leisten könnte.

Michelle Steinbeck ist Autorin und selbsternannte Endometriosebotschafterin.

Der Film «chronisch unsichtbar» von Lynn Kohli findet sich auf Youtube.