Erdbebenkatastrophe: Die ignorierte Gefahr

Nr. 6 –

Schon lange warnen Wissenschaftler:innen davor, dass in der Türkei starke Erdbeben drohen. Das Problem wurde trotzdem sträflich vernachlässigt, was auch mit dem Einfluss der Baubranche auf die Politik zu tun hat.

Die Katastrophe traf die Menschen im Schlaf. Ein Erdbeben der Stärke 7,8 auf der Richterskala hat am Montag in den Morgenstunden den Südosten der Türkei und den Norden Syriens erschüttert. Es folgten teils schwere Nachbeben. Auf beiden Seiten der Grenze verloren Tausende Menschen ihr Leben, Tausende Gebäude stürzten ein. Noch ist das ganze Ausmass des Unglücks nicht abzusehen, Retter:innen suchen in den Trümmern noch immer nach Überlebenden – bei eisigen Temperaturen.

Tektonischer Hotspot

Die Erdbeben waren voraussehbar – vor allem auf dem Gebiet der Türkei. Mehrere tektonische Verwerfungslinien ziehen sich durch das Staatsgebiet. So hat Hüseyin Alan, der Vorsitzende der türkischen Kammer für Ingenieurgeologie, in einem Interview dargelegt, dass die nun betroffenen Städte in detaillierten Berichten gewarnt worden seien – genau wie auch Präsident Recep Tayyip Erdoğan und sämtliche relevanten Institutionen. Er habe nie eine Antwort erhalten, so Alan. Die Städte seien einer bestimmten Lobby überlassen worden, sagte der Wissenschaftler und meinte damit die Baulobby, die mit Erdoğans AKP-Regierung eng verwoben ist.

Als besonders erdbebengefährdet gilt die 16-Millionen-Metropole Istanbul. Dort wird die Gefahr aber von Behörden und Entscheidungsträger:innen weitgehend ignoriert. Nur ein Beispiel: Im Juni 2021 startete trotz beträchtlichem Widerstand von Opposition und Umweltschützer:innen der Bau des zweiten Bosporuskanals: Der künstliche Seeweg gilt als Prestigeprojekt von Erdoğan, und er soll den internationalen Schiffsverkehr am Bosporus entlasten. An seinen Ufern sind zudem Siedlungen mit Luxuswohnungen geplant.

Dabei haben Kritikerinnen und Seismologen nicht nur vor Umweltschäden durch den Bau gewarnt, sondern auch vor den Folgen möglicher Erdbeben im Grossraum Istanbul, denn hier stossen die anatolische und die eurasische Erdplatte aufeinander. Wissenschaftler:innen des Geomar-Helmholtz-Zentrums für Ozeanforschung in Kiel haben starke tektonische Spannungen festgestellt, die ausreichen könnten, um ein Beben der Stärke 7,1 bis 7,4 auszulösen. Sollte dies geschehen, dürften die Auswirkungen ähnlich gross sein wie nach dem Beben vom 17. August 1999, dessen Epizentrum in Gölcük südöstlich von Istanbul lag. Mehr als 18 000 Personen starben damals. Seither wird den Istanbuler:innen geraten, zu Hause Wasservorräte unter den Betten zu lagern, und Kinder sollen Trillerpfeifen bei sich tragen, um auf sich aufmerksam machen zu können, falls sie verschüttet werden. Nun wird befürchtet, dass mit dem Bau des neuen künstlichen Kanals im Fall eines Bebens die Evakuierung und die logistische Unterstützung in der Region erschwert werden könnten.

Mit dem Problem geht aber nicht nur die AKP, sondern etwa auch die grösste Oppositionspartei, die CHP, sehr fahrlässig um. Als Ekrem İmamoğlu (CHP) 2019 erfolgreich als Bürgermeister kandidierte, kritisierte er zwar die damals von der AKP geführte Stadtverwaltung dafür, keine Erdbebenvorbereitungen zu treffen. Zu seinen Wahlversprechen gehörte auch, die Neubauten in der Stadt erdbebensicherer zu machen – doch geschehen ist bisher wenig. Das Budget für Erdbebensicherheit wurde laut Medienberichten sogar gekürzt.

Völlig überhitzter Markt

In Istanbul stürzen immer wieder Häuser ein, auch ohne Beben – denn oft sind sie quasi über Nacht aufgebaut worden. Zugleich werden in Metropolen wie Ankara und Izmir laufend Freiflächen zugebaut. War der Wohnungsmarkt in den Städten schon seit Jahren völlig überhitzt, so hat sich die Situation seit Ausbruch des Krieges gegen die Ukraine vor einem Jahr weiter zugespitzt. Der Bedarf an Eigentumswohnungen ist gewachsen, und das nicht zuletzt deshalb, weil seit 2018 gilt: Wer mindestens 400 000 US-Dollar in der Türkei investiert, etwa mit dem Erwerb einer Immobilie, kann direkt den türkischen Pass beantragen. Mit dieser Strategie soll ausländisches Geld ins wirtschaftlich strapazierte Land gelockt werden. Der rote Pass mit dem Halbmond drauf erleichtert die Einreise in den Schengen-Raum.

So wird nun auf riesigen Plakatflächen für Immobilieninvestments geworben, in Istanbul etwa am Flughafen oder in Edelhotels wie dem Hilton. Schon lange wurden Käufer:innen auch auf Arabisch adressiert – und seit letztem Jahr verstärkt auch auf Russisch.

Angesichts der anhaltend schlimmen Wirtschaftskrise in der Türkei ist der Verdrängungseffekt auf dem Immobilienmarkt gross, denn viele Menschen können sich ein Leben in den Städten nicht mehr leisten und sind zum Wegziehen gezwungen. Die ausländischen Investor:innen seien sehr willkommen, sagt eine Istanbuler Maklerin, die anonym bleiben will: «Sie versuchen erst gar nicht zu verhandeln und zahlen meist bar.»

Im Dezember erst hat der renommierte Geologe Naci Görür in einem Fernsehinterview mit CNN Türk davor gewarnt, dass in Istanbul mit einem Beben der Stärke 7,2 zu rechnen sei – mindestens. Das Risiko sei hoch, dass dabei Millionen Menschen ums Leben kommen könnten. «Das ist kein Scherz», sagte Görür und forderte die Behörden erneut auf, so schnell wie möglich Massnahmen zu ergreifen.