Engpässe bei Arzneimitteln: Freier Markt mit fatalen Nebenwirkungen

Nr. 8 –

Komplizierte Lieferketten, hohe Margen, fehlende Aufsicht: Die Engpässe bei Medikamenten gefährden die Gesundheitsversorgung. Warum sind Beschaffung und Herstellung eigentlich nicht Aufgaben des Staates?

Eltern eilen auf der Suche nach fiebersenkendem Sirup für ihre kranken Kinder von Apotheke zu Apotheke, Epilepsie- oder Herzpatient:innen warten vergebens auf Medikamente, in Spitälern gehen die Antibiotika aus: Bei immer mehr Medikamenten gibt es Lieferengpässe. Aktuell sind fast tausend Artikel betroffen, wie eine Datenbank des Berner Spitalapothekers Enea Martinelli zeigt – darunter auch lebenswichtige Präparate.

«Bis vor wenigen Jahrzehnten gab es für manche Medikamente und Impfungen eine öffentliche oder privat-öffentliche Versorgung, für die private Firmen relativ lokal im direkten Auftrag des Staates produzierten», sagt Patrick Durisch, Experte für Gesundheitspolitik bei der nichtstaatlichen Organisation Public Eye. Dann aber, ab den neunziger Jahren, eröffnete die Globalisierung den Pharmakonzernen ganz neue Möglichkeiten zur Renditesteigerung. Grosse Teile der Produktion wurden nach China und Indien verlegt. Weil die Politik darin kein Problem sah, ist die Wirkstoffproduktion (mit Ausnahme von hochkomplexen Bereichen wie Gentherapien) inzwischen grundsätzlich ausgelagert – was zu höchst komplizierten Lieferketten führt.

Bei einer handelsüblichen Herztablette mit zwei Wirkstoffen könnte das, vereinfacht gesagt, so aussehen: Chemische Rohstoffe werden von einer Firma in China hergestellt, ein anderes chinesisches Unternehmen steuert Hilfsstoffe bei. Daraus wiederum produziert ein drittes Unternehmen in China einen Wirkstoff. Ein zweiter für das Endmedikament benötigter Wirkstoff wird derweil nach demselben Prinzip in Indien produziert. Worauf ein weiterer indischer Anbieter aus den beiden Wirkstoffen das fertige Medikament produziert und nach den Vorgaben eines internationalen Pharmakonzerns verpackt. Dieser wiederum importiert das fertige Medikament unter anderem in die Schweiz, wo er es verkauft.

Ohne Kontrollen kann es in solch komplexen Lieferketten schnell zu Unterbrüchen kommen. Doch während Pharmafirmen bei bestimmten Medikamenten genau hinschauen, überlassen sie andere den Risiken von Lieferketten und Markt. Als entscheidendes Kriterium dafür dient ihnen oft nicht etwa der Grad der Notwendigkeit eines Medikaments – sondern wie gross dessen Profitmarge ist.

Das Geschäft mit den Patenten

Bringt eine Pharmafirma ein neues Medikament auf den Markt, besitzt sie dafür meist ein Patent für die Dauer von zwanzig Jahren, während der sie dieses Mittel konkurrenzlos vertreiben kann. Die Konzerne nutzen das, um immer höhere Preise zu verlangen. Entsprechend hoch fallen die Renditen aus – und damit auch die Belastungen für die Grundversicherungen. Seit 2014 stiegen hierzulande die Arzneimittelkosten in der Grundversorgung um 38 Prozent (gegenüber 24 Prozent bei den restlichen Leistungen). Käme es bei patentierten Medikamenten zu Lieferschwierigkeiten, würde das den Gewinn der Pharmakonzerne schmälern. «Deshalb kontrollieren die Pharmafirmen die Zuliefer- und Produktionsbetriebe von patentgeschützten Wirkstoffen sehr genau», sagt Durisch. Kein Wunder, sind die für die Herstellung patentgeschützter Produkte notwendigen Zulieferfirmen vereinzelt in der Hand dieser Konzerne.

Nach zwanzig Jahren aber, wenn der Patentschutz abgelaufen ist, können Konkurrenten identische Medikamente, sogenannte Generika, auf den Markt bringen, sodass die Preise immer weiter sinken – und damit auch die Gewinnmargen. Als Reaktion darauf drücken die Pharmafirmen die Preise bei den Lieferanten. Die Folge: Immer mehr Zulieferer stellen die Produktion ein. So kann es auch bei lebensnotwendigen Wirkstoffen vorkommen, dass es letztlich nur noch einen Hersteller in Indien oder China gibt. Tritt in dessen Fabrik ein Problem auf oder wird ein Handelsweg unterbrochen, fehlen plötzlich die Medikamente. Diverse Konzerne nehmen aber auch immer wieder ohne jede Vorwarnung Präparate vom Markt, die schon lange den Patentschutz verloren haben oder nur für eine kleine Patient:innengruppe bestimmt sind – und deshalb weniger Umsatz und Gewinn bringen.

Immer noch keine Kostentransparenz

Die Produzenten schieben die Schuld auf die zu tiefe Vergütung von Generika, deren Verkauf in der Schweiz rund ein Fünftel des Umsatzes mit kassenpflichtigen Medikamenten ausmacht. Die Realität indes sieht in der Regel anders aus: Das Herstellen von Generika ist grundsätzlich ein überdurchschnittlich einträgliches Geschäft. Sandoz etwa, die Generikasparte von Novartis und grösste Generikaherstellerin Europas, verzeichnet hohe Margen von rund zwanzig Prozent. Aktuell plant Novartis, Sandoz abzuspalten, und ist auch zum Verkauf bereit. Der geschätzte Preis: bis zu 25 Milliarden Franken. In der Schweiz ist die Vergütung für Generika gar noch deutlich höher als in den meisten anderen Ländern. Würden die Preise noch weiter angehoben, gelangten tendenziell zwar mehr dieser Medikamente in die Schweiz – diese würden aber verstärkt in finanziell ärmeren Ländern fehlen.

Eine flächendeckende Erhöhung der Generikapreise würde also vor allem die Renditen der Hersteller weiter erhöhen. Punktuell jedoch könnten Erhöhungen durchaus auch sinnvoll sein, findet Spitalapotheker Enea Martinelli, der seit langem vor L­­­­ieferengpässen warnt. Doch in der Schweiz versage bisher die Aufsicht, sagt der ehemalige BDP-Politiker: «Niemand sorgt dafür, dass alte, aber wichtige Wirkstoffe erhältlich bleiben.» Solange für solche Medikamente noch drei Anbieter auf dem Markt seien, so Martinelli, seien die Behörden beruhigt. Dabei würden sie allerdings übersehen, dass womöglich alle Hersteller vom gleichen Zulieferer abhängig seien – oder alle ausser einem Hersteller nicht genügend Kapazitäten hätten, um ihre Produktion zu steigern, wenn die Mitbewerber verschwänden. Zu tiefe Medikamentenpreise können in dieser Situation folglich dazu führen, dass der entscheidende Anbieter die Produktion einstellt.

Grundsätzlich schliesst auch Patrick Durisch nicht aus, dass manche ältere Generika punktuell etwas zu günstig sein könnten. Allerdings: «Die Hersteller müssten zuerst endlich Transparenz über die effektiven Kosten herstellen.» Nur so könne geprüft werden, ob manche Preise effektiv zu tief seien. Derweil zeigt eine kürzlich von Public Eye veröffentlichte Untersuchung, dass Hersteller bei patentgeschützten Medikamenten viel zu hohe Entwicklungs- und Produktionskosten ausweisen, um überhöhte Preise zu rechtfertigen und Gewinnmargen von bis zu neunzig Prozent zu erwirtschaften. Durisch schlägt vor, die Produkte im Verbund mit anderen europäischen Staaten wieder unter staatliche Kontrolle zu bringen: «Das wäre die wirkungsvollste Massnahme gegen Engpässe bei alten, aber lebensrettenden Produkten wie etwa Antibiotika.»

Inzwischen hat auch der Bundesrat das Problem erkannt, zwei Taskforces eingesetzt und einen Bericht erstellen lassen. Darin wird empfohlen, die Pflichtlager aufzustocken und den Herstellern von lebenswichtigen Arzneien höhere Preise zu vergüten. Als weitere Massnahme wird aber auch die «Eigenbeschaffung und -herstellung» von Arzneimitteln durch den Bund vorgeschlagen. Gerade Letzteres wäre ein wichtiger Schritt weg vom freien Markt und dessen negativen Folgen. Der Widerstand der Pharmalobbyist:innen dagegen ist gewiss.