Kost und Logis : Atemübungen im Supermarkt

Nr. 9 –

Bettina Dyttrich findet Gelassenheit nicht immer richtig

«Infinite Jest» von David Foster Wallace hat über tausend Seiten. Für manche Leser:innen eine Offenbarung, für viele eine Zumutung. Natürlich ist das Buch beides. Auf der offensichtlichsten Ebene geht es um ein junges Tennistalent mit Suchtproblemen, aber das sagt nicht viel aus. Wallace nahm eine maximal postmoderne Form – ausufernd, voller Referenzen auf erfundene Kunstfilme, mit Hunderten von Fussnoten – und füllte sie mit einem Inhalt, der quer zur Form stand: Er war ernst.

«Infinite Jest» erschien 1996. In jener Zeit, als der Westen dachte, die Formel «Konsumgesellschaft plus Demokratie» werde sich unaufhaltsam auf der Welt verbreiten. Die Idee des Kommunismus schien tot, junge Menschen wurden im besten Fall ironische Künstler:innen, im schlimmsten Fall zynische Dotcom-Millionäre. Gerade weil er nicht in diese Zeit passte, konnte Wallace sie wunderbar abbilden. Ulrich Blumenbach brauchte sechs Jahre für die deutsche Übersetzung; 2009 kam sie als «Unendlicher Spass» heraus.

2005 wurde Wallace eingeladen, an einer College-Abschlussfeier eine Rede zu halten. Auch das nahm er sehr ernst. Er sprach vom Denken, aber nicht von seiner glorifizierten Form. Sondern vom automatischen Denken, das vielen Menschen als Schock bewusst wird, wenn sie sich zum ersten Mal mit sogenannter Achtsamkeit beschäftigen. Klingt nach Wellness, bewirkt aber das Gegenteil: Ich kann mich keine Minute konzentrieren. Gedanken kreisen in meinem Kopf, sind dermassen dominant, dass sie mich davon abhalten, die Welt wirklich wahrzunehmen. Viele dieser Gedanken sind aggressiv und egoistisch. Wallace beschrieb das schön am Beispiel eines Angestellten, der auf dem Weg vom Büro zum Supermarkt im Stau steht und die ganze Menschheit hasst. Es ginge auch anders, sagte er: Wirkliche Bildung habe fast nichts mit Wissen und sehr viel mit schlichtem Bewusstsein zu tun. Die Rede klang, als wäre er gleichzeitig schwer depressiv (was stimmte) und kurz vor der Erleuchtung. 2008 nahm er sich das Leben.

Wallace hatte recht – das Leben geht vorbei, während wir uns vor der Kasse, im Stau, in der Hotline-Warteschlaufe zu Tode ärgern und darauf warten, dass das richtige Leben anfängt. Es ist wichtig, das zu merken. Das richtige Leben ist immer jetzt. Wir sind den Gedankenschleifen nicht hilflos ausgeliefert.

Trotzdem ertrage in den Text kaum. Denn Wallace fragt nicht: Warum ist ein grosser Teil unserer Alltagsumgebung so unerträglich hässlich? Warum sind Fortbewegung und Einkauf zur Tortur geworden? Dabei stellen sich diese Fragen im Autoland USA noch um einiges heftiger als hier. Dass Social Media psychische Probleme auslösen können, ist bekannt – im Stau stehen kann es auch. Es sind nicht nur Gedankenschleifen, die depressiv machen. Es sind auch die sehr konkreten, physischen Strukturen, die zerstörte Landschaft, die Entfremdung vom eigenen Essen. Auch darum ist psychische Gesundheit eine politische Frage.

Bettina Dyttrich ist WOZ-Redaktorin. Die Rede von David Foster Wallace ist unter dem Titel «Das hier ist Wasser / This Is Water» als Taschenbuch erschienen und auf Englisch auch online zu finden.