Erdbeben in der Türkei und in Syrien: Erst der Schock, nun die Wut

Nr. 9 –

Der Ärger über das türkische Katastrophenmanagement wächst, denn von den politisch Verantwortlichen wurde bisher niemand zur Rechenschaft gezogen. Stattdessen wird gegen syrische Geflüchtete gehetzt.

«Regierung, tritt zurück!», riefen die Fans des türkischen Fussballerstligisten Beşiktaş in Sprechchören beim Spiel letzten Sonntag. Die Ultras des Istanbuler Vereins sind bekannt für ihre Ablehnung von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan. Einen Tag zuvor sangen schon die Anhänger:innen von Fenerbahçe Istanbul im Stadion: «Zwanzig Jahre Lügen und Betrug, tritt zurück!»

Der Hobbyfussballer Erdoğan ist Fan von Fenerbahçe. Als am Wochenende auf den Tribünen Protestslogans skandiert wurden, drehten die Sender bei der Übertragung die Lautstärke runter. Doch die Videos von den Spielen kursieren seitdem in den sozialen Medien – mit Hunderttausenden Tweets über die Protestaktionen.

Als Anhänger von Galatasaray, des dritten grossen Fussballklubs Istanbuls, begrüsse er die Rücktrittsforderungen auf den Tribünen von Fenerbahçe und Beşiktaş, twitterte der prominente Journalist Hasan Cemal. «Ich gratuliere den Fans beider Mannschaften von ganzem Herzen.» Devlet Bahçeli, Chef der rechtsextremen MHP und Koalitionspartner der AKP, echauffierte sich hingegen, solche Rücktrittsforderungen seien, während die Türkei mit den Folgen der grössten Erdbebenkatastrophe seit dem letzten Jahrhundert zu kämpfen habe, unverantwortlich. Auf Twitter drohte Bahçeli gar, die Spiele könnten auch ohne Zuschauer:innen stattfinden. Er hat nun seine Mitgliedschaft bei Beşiktaş gekündigt.

Versäumnisse mit Todesfolge

In sozialen Medien, in den Stadien und auch zunehmend in Gesprächen mit Medien auf der Strasse – die Menschen in der Türkei begehren auf gegen Erdoğan und dessen Regime. Dies könnte auch die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen beeinflussen, die voraussichlich am 14. Mai stattfinden werden.

Nach dem verheerenden Beben vor drei Wochen im Grenzgebiet zu Syrien folgen nun auf den Schock die Wut und die Frustration über eine Regierung, die sich ihrer Verantwortung für schlechte Baustandards entzieht. Auch deswegen haben 61 Anwält:innen Klage gegen Erdoğan eingereicht. Sie werfen dem Präsidenten Versäumnisse mit Todesfolge und Einschüchterung vor. Zudem habe Erdoğan fatalistisch gehandelt: Die Jurist:innen verweisen auf eine seiner Aussagen nach den Beben, in der er von einem «Schicksalsplan» sprach.

Während inzwischen gegen rund 160 Bauunternehmer:innen ermittelt wird, hat es bisher keinen einzigen politischen Rücktritt gegeben und auch keine Ermittlungen gegen politisch Verantwortliche. Bis heute hat kein Regierungsmitglied nachvollziehbar erklärt, wie die seit 1999 erhobene Erdbebensteuer eingesetzt wurde und wer von der 2018 umgesetzten Bauamnestie eigentlich profitierte. Diese sah vor, dass illegal errichtete Gebäude nachträglich mit der Zahlung einer Geldstrafe legalisiert werden konnten, womit die Regierung Milliarden einnahm. Erdoğan nannte dieses Projekt damals «Baufrieden».

Mehr als 44 000 Tote werden nach dem katastrophalen Beben in der Türkei bisher gezählt, über 170 000 Gebäude wurden zerstört oder schwer beschädigt. Die türkische Ärztekammer zweifelt die offiziellen Zahlen allerdings an – sie geht von noch mehr Toten aus, auch weil längst noch nicht alle Leichen geborgen worden sind. Deswegen will die regierungskritische Organisation die Zahl der Bestattungen bei den Gemeinden abfragen, um diese mit den Regierungsangaben vergleichen zu können.

Diskriminierung und Hetze

Die Präsidentin des Ärzteverbands, Şebnem Korur Fincancı, äusserte sich auch darüber hinaus kritisch: Sie habe im Erdbebengebiet Diskriminierung beobachtet, schilderte sie gegenüber türkischen Medien. In Gebieten mit mehrheitlich AKP-Wähler:innen seien die Hilfsleistungen effektiver gewesen als andernorts.

Zudem gibt es vermehrt Berichte, dass Behörden und auch Teile der Bevölkerung syrische Geflüchtete in den Katastrophengebieten als Sündenböcke darstellen. Rund zwei Millionen Syrer:innen leben in der betroffenen Region, doch während die Regierung den Türk:innen Geldzahlungen versprochen hat, erhalten syrische Geflüchtete nichts. Von allen grossen Parteien wird zudem politisch Stimmung gegen sie gemacht – Syrer:innen sollen aus Notunterkünften geworfen worden sein, und es soll wieder Ausschaffungen an die Grenze gegeben haben.

Derweil versucht die Regierung, kritische Berichterstattung über ihr Katastrophenmanagement zu unterdrücken. So müssen etwa die drei Fernsehsender Halk TV, Tele 1 und Fox Geldstrafen zahlen, weil sie über die schleppende Unterstützung der staatlichen Katastrophenschutzbehörde Afad sowie über Plünderungen und Diebstähle in der Erdbebenregion berichtet hatten. Afad wurde in den vergangenen zwanzig Jahren von Erdoğan umgebaut, Schlüsselpositionen wurden mit Loyalist:innen besetzt.

Auch nachdem Medien publik gemacht hatten, dass der türkische Rote Halbmond Zelte und Lebensmittel für die Erdbebenopfer an eine andere Hilfsorganisation verkauft hatte, anstatt sie an die Obdachlosen zu verteilen, bezeichnete Erdoğan die Kritiker:innen als «unehrlich und abscheulich». Auf Twitter wird deswegen zynisch gewitzelt: «Wenn ihr nach einem Erdbeben unter Trümmern liegt und niemand kommt, ruft einfach ‹Die Regierung muss zurücktreten!›, dann kommt die Polizei, um euch abzuholen.»