Ausstellung: Aus einer Stimme werden viele

Nr. 10 –

In ihrer Ausstellung im Fotomuseum Winterthur macht Adji Dieye Sprache als Mittel kolonialer Unterdrückung kenntlich. Und sie dokumentiert städtebauliche Veränderungen nach der Unabhängigkeit des Senegal.

 Adji Dieye lehnt sich an eine Wand und liest aus Reden senegalesischer Präsidenten
Weder eigene Worte noch eine eigene Sprache: Adji Dieye liest auf Französisch aus Reden senegalesischer Präsidenten. Still: «Aphasia»,2022, © Adji Dieye

Von den hellen Räumen, in denen im Fotomuseum Winterthur aktuell das Schaffen der österreichischen Künstlerin Valie Export zu sehen ist – hier stellt sie breitbeinig ihre Vulva zur Schau, dort fordert sie Passant:innen auf, ihre Brüste zu berühren –, gelangen wir in einen dunkleren Raum. Dünne, grossformatige Stoffe hängen von der Decke, bedruckt mit Aufnahmen von Dakar. Sie greifen jene Schauplätze städtebaulichen Wachstums auf, die der zweiteiligen Videoinstallation «Aphasia» von Adji Dieye als Kulisse dienen. Darin sitzt die italienisch-senegalesische Künstlerin auf einem Rohr aus Beton oder auf einem Schotterhaufen inmitten einer Baustelle. Von losen Blättern liest sie öffentliche Reden senegalesischer Präsidenten ab, lässt eines nach dem anderen zu Boden gleiten. Ihre Stimme dringt aus dem Off, doch die Bewegung ihrer Lippen scheint verzögert.

In jeder Szene kämpft sich Dieye durch den französischen Text, wühlt sich durch die Sprache, die von der kolonialen Herrschaft Frankreichs aufgezwungen wurde. Bis heute ist Französisch die offizielle Amtssprache des Senegal, obwohl ein grosser Teil der Bevölkerung es kaum spricht. Durch bewusst eingesetzte Momente der Störung – die holpernde Lektüre, die Abwesenheit von Untertiteln – macht Dieye Sprache als Mittel kolonialer Unterdrückung kenntlich.

Das eigene Unwissen

Dass diese Unterdrückung fortwirkt, wurde Adji Dieye während ihrer Recherche in den Archives Nationales du Sénégal bewusst, wo sie die Reden fand. In ihrem Video hält sie einzelne Kopien davon in der Hand, womit sie deutlich macht, dass nur ausgewählte Ereignisse als gesellschaftlich und historisch relevant erachtet und für zukünftige Generationen dokumentiert werden. Dass das Archiv auf Französisch angelegt ist, wirft ausserdem Fragen auf: Aus welcher Perspektive wird erinnert? Und: Wer sollen eigentlich die Adressat:innen dieser Geschichte sein?

Den Verlust der eigenen Autor:innenschaft, der eigenen Stimme, bringt Dieye auch mit dem Video- und Ausstellungstitel zum Ausdruck: Bei der «Aphasie» handelt es sich um eine neurologische Störung – etwa in der Folge eines Schlaganfalls –, bei der Worte nicht mehr artikuliert oder verstanden werden können. Indem Dieye diesen Begriff nun für sich reklamiert, weist sie auf den Sprachverlust als Folge kolonialer Gewalt und einer auferlegten Deutungshoheit hin. Diesem Verlust wirkt sie mit einer Vielzahl an Stimmen entgegen. Im ersten Teil ihrer Videoinstallation dringt nicht nur ihre eigene Stimme aus dem Off, Dieye hat die Reden auch von verschiedenen Personen einsprechen lassen. Im zweiten Teil, der sich im Ausstellungsraum auf der gegenüberliegenden Seite befindet, werden Gesänge auf Wolof hörbar – eine der rund zwanzig Sprachen, die im Senegal gesprochen werden. Ein Versuch, jene Pluralität wieder aufleben zu lassen, die das koloniale Regime unterdrückt hatte.

Nicht zuletzt konfrontiert uns die Videoinstallation mit dem eigenen Unwissen, mit unserer westlich geprägten Anspruchshaltung: Reagieren wir genervt, wenn wir keine Untertitel sehen, wenn uns die Inhalte der Gesänge nicht in einer uns geläufigen Sprache vermittelt werden?

Mehr Platz im Museum

Der Einfluss des Kolonialismus wirkt nicht nur sprachlich, sondern auch städtebaulich fort. Die Hauptstadt Dakar war im 19. Jahrhundert ein wichtiger Stützpunkt für Frankreich und wurde architektonisch von dieser Herrschaft geprägt. Nach Erlangen der Unabhängigkeit Anfang der 1960er Jahre versuchte man sich in Dakar bewusst davon zu emanzipieren. Es setzte ein Wachstum aufgrund der zunehmenden Migration ein: Wegen der schlechten Infrastruktur, der Überschwemmungen und Dürren, aus denen unzureichende Ernten und Armut resultierten, zogen die Menschen vom Land in die Stadt. Dabei spielt das sich verändernde Klima eine immer grössere Rolle.

Wie in Dakar immer mehr Gebäude abgerissen und neu gebaut werden, veranschaulichen auch die Fotografien auf den grossformatigen Stoffen. Die dünne, feine Seide lässt daran denken, wie fragil die jeweiligen Lebens- und Ökosysteme sind – insbesondere in Anbetracht asymmetrischer Macht- und Wirtschaftsverhältnisse, die eng mit dem Kolonialismus verknüpft sind. Der argentinische Philosoph und Literaturwissenschaftler Walter Mignolo hat dieses Problem mit dem Satz «Coloniality is not over, it is all over» präzise auf den Punkt gebracht. Kolonialität ist nicht vorbei, sie ist überall: in der Sprache, in den Archiven, die Einfluss auf unsere Wissensproduktion nehmen, die unseren Blick auf das Hier und Jetzt prägen.

Davon handelt die Ausstellung in Winterthur. Auch deshalb hätte man sich mehr Platz für Adji Dieye und ihr dekoloniales Projekt gewünscht. Neben der gross angelegten Ausstellung von Valie Export, einer wichtigen, jedoch oft rezipierten Stimme eines weissen Feminismus, wirkt die Ausstellung von Dieye räumlich marginal. Die Einzelausstellungen nichtweisser Künstler:innen während der letzten zehn Jahre im Fotomuseum lassen sich an einer Hand abzählen. Umso dringlicher wäre es gewesen, Dieye mehr Raum zu geben. Denn nicht zuletzt geht es hier um Repräsentation – das weiss auch Valie Export.

«Aphasia» von Adji Dieye ist noch bis am 29. Mai 2023 im Fotomuseum Winterthur zu sehen. Ein Katalog ist in der Reihe «Photographic Encounters» im Christoph Merian Verlag erschienen. www.fotomuseum.ch