Im Affekt: Feuilleton im Effizienzrausch

Nr. 10 –

Es gibt ihn noch, den Fall, in dem kein anderer es hätte richten können als ein alter deutscher Mann. Der Fall: eine «wirklich umfassende» Darstellung des Gesamtwerks von Thomas Mann. Der Mann: Dieter Borchmeyer, ein Goethe-Wagner-und-so-weiter-Forscher, dessen Hauptwerk «Was ist deutsch?» heisst. «Als Mann von fünfzig Jahren wäre ich dazu noch kaum imstande gewesen», schreibt Borchmeyer in der NZZ, wo er sein 1500-Seiten-Werk, das er «auf einen Schlag» und in «nicht einmal vier Jahren» geschrieben habe, eigenmächtig würdigen durfte. Wir lesen von seinem Schreiben im «Dauerrausch», «beflügelt von so viel Zustimmung», aber auch von «depressiven Verstimmungen» (Entzugserscheinungen, vermutet der Autor). Elegant auch, wie die Selbstwürdigung als Echo bei den Pressestimmen auf den Verlagsseiten nachhallt: «Ein Monument für ein Jahrhundertwerk».

Aber im Ernst, hat dem Mann niemand gesagt, dass er seine Hosen hier vielleicht etwas zu weit runtergelassen hat? Dem Buch erweist er damit wohl einen Bärendienst. Aber klar, auch die NZZ muss überleben, und da hat die Eigenrezension einige Vorzüge. Wer kennt ein Werk so gut wie die Person, die es sich ausgedacht hat? Vor allem kann man sich damit aufwendige Lektüren und allenfalls sogar Honorare für externe Rezensent:innen sparen. Feuilleton im Effizienzrausch.

Das weiss niemand besser als Michèle Binswanger. Was sie bei Tamedia leitet, heisst zwar nicht mehr Feuilleton, nicht einmal Kulturteil, dafür ist es grösser und umfassender und heisst darum «Leben». Dort hat sie über den «drei Jahre dauernden Kampf» um ihr Buch zur Zuger Landammann-Affäre einen Text geschrieben, der von der Anlage her an Borchmeyer erinnert: «So habe ich mein Buch geschrieben.» Entsteht hier aus Sparnot gerade ein neues Genre? Dabei kommt eine lange Zeit vernachlässigte Perspektive zu Wort, und langweiliges Gedankendrehen wird durch persönliche Geschichten abgelöst – was kann man sich von Journalismus mehr wünschen?

Lust auf das «ideengeschichtliche Zentralmassiv des 20. Jahrhunderts»? Auch der Kotext in der NZZ sagt: Mann, nein danke!