Nach dem Erdbeben in der Türkei und Syrien: «Tretet sofort zurück»

Nr. 10 –

Kann man von einer Regierung, die nachträgliche Bewilligungen für illegale Bauten ausstellt, erwarten, dass sie aus ihren Fehlern lernt?

Mücella Yapıcı sitzt in ihrer Zelle im Frauengefängnis von Bakırköy, als sie am Morgen des 6. Februar von den schweren Erdbeben in der Türkei und Syrien erfährt. «Ich habe Wut verspürt, aber auch Verantwortung, Trauer und den Wunsch, zu revoltieren», beschreibt sie ihre Gefühle an diesem Tag – ihre Anwält:innen haben das Gespräch zwischen ihr und einer Mitgefangenen publiziert. «Doch allem voran», so Yapıcı, «stand die Frage: Was mache ich hier drin, wo es doch da draussen so viel zu tun gibt?»

Mücella Yapıcı ist Architektin und Generalsekretärin der Istanbuler Architektenkammer TMMOB. Und sie ist eine Aktivistin, die sich für eine ökologische, menschenfreundliche und erdbebensichere Stadt einsetzt. Als Mitglied der Gruppe Taksim-Solidarität, die 2013 ein wichtiger Akteur während der Gezi-Proteste war, wurde sie vergangenes Jahr zu achtzehn Jahren Haft verurteilt. Während des Erdbebens von 1999 leitete Yapıcı ein Koordinierungszentrum und verfügt dementsprechend über Erfahrungen, die in der aktuellen Situation wertvoll sind. Nun fühlt sie sich hinter den Gefängnismauern nutzlos.

Geologe spricht von «Mord»

Ebenfalls inhaftiert, aber noch nicht rechtskräftig verurteilt ist der Bauherr Mesut Başkır. Als nach den Erdbeben ein Haftbefehl wegen fahrlässiger Tötung gegen ihn erlassen wurde, versuchte er sich mit seiner Luxusjacht über die Westküste der Türkei abzusetzen. Unter seiner Aufsicht errichtete Gebäude in der Provinz Kahramanmaraş stürzten während des Erdbebens ein und begruben die Bewohner:innen unter sich. Die Zahl der beim Beben in der Türkei Getöteten liegt offiziell bei über 46 000. Innerhalb der ersten beiden Wochen nach dem Erdbeben seien 182 Bauunternehmer verhaftet worden, berichtet die Zeitung «Diken». Doch von den Politiker:innen will bisher niemand Verantwortung eingestehen. Dabei ist der türkische Bausektor für seine enge Verstrickung mit höchsten politischen Kreisen bekannt, die auch über das AKP-Regime hinausreichen.

Nach dem Erdbeben von 1999 mit dem Epizentrum in İzmit, östlich von Istanbul, wurden die Bauvorschriften im ganzen Land verschärft. In der Theorie ist die Gebäudesicherheit also geregelt. Doch sowohl die Gesamtzahl der eingestürzten Gebäude als auch die Tatsache, dass Neubauten wie Kartenhäuser in sich zusammenfielen, legen den Verdacht nahe, dass die Einhaltung der Standards nicht überprüft wurde. Stattdessen wurden immer wieder sogenannte Bauamnestien erlassen, die, statt fehlerhaftes Bauen zu sanktionieren, die Verantwortlichen von Strafzahlungen befreiten. Pelin Pınar Giritlioğlu, Vorsitzende der Istanbuler Kammer der Stadtplaner:innen, sagte kürzlich in einem Fernsehinterview, bei 75 000 Gebäuden in der Erdbebenregion habe es solch eine Amnestie gegeben. Celâl Şengör, Professor für Geologie an der Technischen Universität Istanbul, setzt die Bauamnestien mit Mord gleich.

Die Kombination aus einem ausgehöhlten Rechtsstaat und dem starken Einfluss der Bauindustrie auf politische Entscheidungsträger:innen gefährdet Menschenleben. Das Beispiel der Farklı-Yaşam-Rende-Wohnsiedlung im südosttürkischen Antakya zeigt, wie der rechtliche Kampf der Bewohner:innen für Gebäudesicherheit durch die Justiz behindert wurde. Wie die Recherche der Zeitung «Cumhuriyet» belegt, wurden in zwei der vier Gebäudeblöcke tragende Wände in den unteren Geschossen entfernt. Die vergrösserte Fläche sollte für Kindergärten genutzt werden.

Im Mai 2016 hatte der Anwalt Coşkun Atılğan Anzeige gegen den Bauherrn und den Grundbesitzer der Siedlung erstattet und bei der Stadtverwaltung beantragt, dass ihnen die Genehmigung für den Umbau verweigert wird. Mit 144 Familien, die in den Blöcken ihre Wohnungen haben, habe Atılğan gesprochen. Doch weder die Stadtverwaltung noch der Gouverneur noch die Staatsanwaltschaft wurden aktiv. Auch die Generaldirektion für Bildungswesen in der Provinz Hatay lehnte Atılğans Antrag ab, den geplanten Kindergarten in der Farklı-Yaşam-Rende-Anlage nicht zu genehmigen. Letztlich starben beim Erdbeben Anfang Februar über hundert Menschen in den Trümmern dieser Gebäude. Doch warum wurde der Staat nicht aktiv, obwohl wahrscheinlich nicht einmal ein Erdbeben nötig gewesen wäre, um diese Konstruktion zum Einsturz zu bringen?

Wie der Journalist Metin Cihan aufdeckte, verfügten sowohl der Bauherr Fevzi Yılmaz als auch der Grundbesitzer Arif Sami Rende über gute Kontakte in der AKP. Deren lokaler Vorsitzender sowie der AKP-Abgeordnete Sabahat Özgürsoy Çelik besuchten Yılmaz im Januar 2022 in seinem Büro. Dass Atılğans Antrag bei der lokalen Behörde des Bildungsministeriums keinen Erfolg hatte, könnte daran gelegen haben, dass die Betreiberin des Kindergartens und Tochter des Grundbesitzers, Hülya Rende, Beziehungen zum Bildungsminister Mahmut Özer pflegt, den sie in den achtziger Jahren unterrichtet hatte.

An Eröffnungsfeiern von Luxusresidenzen, die mittlerweile eingestürzt sind, nahmen neben dem AKP-Abgeordneten Çelik auch andere Politiker wie der Bürgermeister von Hatay, Lütfü Savaş, teil. Bis 2013 war Savaş Mitglied der AKP, doch wechselte er anschliessend zur kemalistischen CHP, die landesweit aktuell die grösste Oppositionspartei darstellt. Seit 2014 ist er Bürgermeister von Hatay. Ein Rücktritt nach dem Erdbeben komme für ihn nur infrage, sagt er, wenn auch alle anderen Bürgermeister der insgesamt elf betroffenen Regionen diesen Schritt gingen. Wie die «Gazete Duvar» berichtet, wurde Grundbesitzer Arif Sami Rende Ende Februar verhaftet.

Die fünf Monopolisten

Die Vergabe von öffentlichen Bauaufträgen wurde seit der Machtübernahme der AKP von den fünf grossen Firmen Cengiz, Limak, Kalyon, Kolin und Makyol monopolisiert. Als «Fünferbande» bezeichnen Oppositionelle die Monopolisten der Baubranche, denen sie vorwerfen, ihre Gewinne teilweise auch für Korruptionszahlungen zu verwenden. In nur zehn Jahren sollen sie 204 Milliarden US-Dollar für verschiedene Bauprojekte erhalten haben, beispielsweise für Flughäfen, Strassen oder Brücken.

Der Gezi-Aufstand im Jahr 2013 begann als Protest gegen viele dieser Bauprojekte und entwickelte sich schnell zum grössten zivilgesellschaftlichen Widerstand gegen Präsident Recep Tayyip Erdoğan und die AKP. In der Gruppe Taksim-Solidarität debattierten bereits in den Jahren zuvor Stadtplanerinnen, Architekten und Umweltaktivist:innen über die Risiken, die der Bauboom mit sich brachte. Führende Köpfe wie Mücella Yapıcı oder der Stadtplaner Tayfun Kahraman büssen nun mit einer Gefängnisstrafe für ihr Engagement.

Für das Wohl der Menschen

Yapıcı appelliert an die türkische Bevölkerung, Bauherren und Politiker:innen mit ihrer Fahrlässigkeit nicht ungestraft davonkommen zu lassen. Teams aus Anwältinnen, Berufskammern und Beamten müssten vor Ort Beweise sammeln, beispielsweise für schlechte Bausubstanz. Doch vor allem fordert sie den Rücktritt aller Verantwortlichen. «Tretet von euren Posten zurück, sofort und für immer. Das wäre die wichtigste und beste Handlung für alle in diesem Moment.»

Kann man von einer Regierung, die Amnestien für illegale, potenziell lebensgefährliche Bauten erlässt, erwarten, dass sie in Zukunft aus den Fehlern lernt und sichere Gebäude errichten lässt? Wohl kaum. Das grundlegende Recht auf eine sichere Unterkunft ist unter der aktuellen Regierung nicht gewährleistet. Die enge Verbindung zwischen Bauunternehmern und dem AKP-Regime hatte tödliche Auswirkungen für Zehntausende Bürger:innen; weitere Hunderttausende sind verletzt, obdachlos oder haben ihre Familien verloren. Der Wiederaufbau und die Sicherung von weiteren Erdbebengebieten dürfen daher nicht im Interesse der Profiteure aus der Bauindustrie geplant und umgesetzt werden, sondern müssen ohne Ausnahmen dem Wohl der Menschen dienen.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf Englisch im britischen Magazin «Tribune», das zur sozialistischen Publikation «Jacobin» gehört.