Politische Gefangene aus Nicaragua: «Es war wie in einer Gruft»

Nr. 10 –

Dora María Téllez war sandinistische Guerillakämpferin und dann Gesundheitsministerin Nicaraguas – bevor sie sich mit dem zunehmend autoritären Präsidenten Daniel Ortega überwarf. Bis Februar sass sie in Isolationshaft – jetzt spricht sie darüber.

WOZ: Frau Téllez, Sie sassen 605 Tage lang in sogenannter Dunkelhaft allein in einer finsteren Zelle. Wie überlebt man das, ohne verrückt zu werden?

Dora María Téllez: Man muss einen Überlebensmechanismus entwickeln. Ich bin um vier Uhr morgens aufgestanden und habe eine Stunde Gymnastik gemacht, dann bin ich eine Stunde im Kreis gegangen und habe auf das Frühstück gewartet. Dann bin ich wieder eine Stunde gegangen und habe bis zum Mittagessen Gymnastik gemacht. In der Dunkelheit habe ich mir dabei ein Knie und die Füsse verletzt. Ich hatte ja keine Schuhe, nur Flipflops. Der Nachmittag war immer lang und schwierig. Da lässt man sich Ereignisse und Szenen aus der Vergangenheit durch den Kopf gehen. Manchmal habe ich an bestimmte Bücher gedacht oder mir Gedichte in Erinnerung gerufen. Das hilft, das Gehirn zu trainieren.

Sie wurden zu acht Jahren Haft verurteilt. Wie geht man damit um?

Das sind Grenzerfahrungen, diese ständige Unsicherheit. Ich fühlte mich tot. Vor allem die ersten drei Monate, bevor wir politischen Gefangenen zum ersten Mal Familienbesuch empfangen und einen Anwalt sehen durften, das war wie in einer Gruft. Wir durften ja weder lesen noch schreiben. Wir durften mit niemandem reden, keine Mitgefangenen sehen, keinen Sport betreiben, absolut nichts. Das Einzige, was wir machen konnten, war essen, schlafen, die Notdurft verrichten und uns bewegen.

Haben Sie beim Training für die Guerilla vor über vierzig Jahren Ratschläge dazu bekommen, wie man die Haft am besten übersteht?

Das nicht, aber wir wurden auf Verhöre vorbereitet. Das war nützlich. Während der ersten Monate in Haft wurden wir ja dreimal täglich zum Verhör aus der Zelle geholt: am Morgen, am Nachmittag und um Mitternacht. Da wollten sie Auskunft über bestimmte Personen, über die Kirche, über unsere Partei, über NGOs, die Medien, einzelne Journalist:innen, die Frauenbewegung, die Bauernbewegung. Mich haben sie absurde Dinge gefragt: was die Presse mir für ein Interview gezahlt hat, wie ich es geschafft habe, von bestimmten Medien interviewt zu werden, oder wie viele Kurse zur Ausbildung von Führungskräften ich gegeben habe. Sie waren davon überzeugt, dass aus diesen Kursen die Jugendlichen hervorgegangen waren, die den zivilen Aufstand 2018 angeführt hatten. Diese politische Polizei hat eine total repressive Mentalität und will die Kontrolle über alles haben.

2018 provozierte die Repression friedlicher Demonstrationen ja einen landesweiten Aufstand, der das Regime ins Wanken brachte. Ging es bei den Verhören um diesen angeblichen Putschversuch?

Immer. Alle Verhöragenten hatten sich das Narrativ von Präsident Ortega zu eigen gemacht, wonach die USA im April 2018 einen Putsch inszeniert hätten – die USA in Zusammenarbeit mit der Kirche und unserer Partei MRS, die jetzt Unamos heisst.

Daniel Ortega verweist gerne darauf, dass er unter dem Diktator Anastasio Somoza auch sieben Jahre lang im Gefängnis sass. Sind die Haftbedingungen von damals vergleichbar mit denen, die Sie erlebt haben?

Daniel Ortega war nie in Isolationshaft. Wir hatten keines der Rechte, die die politischen Gefangenen damals genossen. Sie durften jede Woche mit der Familie telefonieren, Nachrichten im Fernsehen schauen, lesen, kochen, sich in der Cafeteria treffen. Ich durfte kurz vor Prozessbeginn gerade mal zwei Minuten mit meiner Anwältin sprechen. Die Prozesse waren absolut abartig. Den Anwält:innen wurden keinerlei Beweise vorgelegt. In sämtlichen Fällen hat die Polizei die «Beweise» frei erfunden. Einem Freund aus der Stadt La Paz Centro hat man einen Facebook-Account eingerichtet, um dort verfängliche Postings zu platzieren. Der Mann ist 78 Jahre alt und wusste nicht einmal, was Facebook ist. Man hat sich also nicht einmal bemüht, die Form zu wahren.

Welche Beweise hat man gegen Sie vorgelegt?

Das war sehr unterhaltsam. Die «Beweise» waren drei Tweets, eigentlich Retweets, also Postings, die ich kommentarlos weitergeleitet hatte. Das eine bezog sich auf den Senat in Washington, der damals erwog, Nicaragua aus dem Freihandelsabkommen auszuschliessen, wenn die Wahlen vom November 2021 nicht sauber wären. Bei den anderen beiden ging es um ähnliche Dinge.

Sie haben Ihre Freilassung und die von 221 anderen politischen Gefangenen im vergangenen Februar als Eingeständnis der Niederlage Ortegas bezeichnet, weil keiner der politischen Gefangenen eingeknickt sei. Was meinen Sie damit?

Bei den Verhören wurden wir immer wieder gefragt, ob wir nicht unsere Meinung über die Regierung und die Regierungspartei geändert hätten. Ich habe ihnen gesagt, ihr könnt mich hier fünfzehn oder zwanzig Jahre einsperren, und ich werde immer noch der Meinung sein, dass Nicaragua eine Demokratie braucht. Mir haben sie sogar einen Posten im Staatsapparat angeboten, wenn ich meine Meinung änderte.

Wie geht es Ihnen gesundheitlich?

Ich habe durch den langen Entzug des Tageslichts Probleme mit den Augen. Das Lesen fällt mir schwer. Und ich komme oft aus dem Gleichgewicht. Ich stosse manchmal gegen eine Wand oder ein Möbelstück.

Mit 67 sind Sie im Pensionsalter. Aus Nicaragua werden Sie wohl keine Rente bekommen.

Nicaragua hat mir die Pension gestrichen, als ich festgenommen wurde. Das trifft auf alle zu, die in die Verbannung geschickt wurden. Unsere Personaldaten wurden aus den Archiven der Standesämter gelöscht, als hätten wir nie gelebt.

Die Opposition in Nicaragua kann man heute mehrheitlich im Mitte-rechts- bis Rechtslager verorten. Welche Möglichkeiten hat die demokratische Linke?

So würde ich das nicht sehen. Unter den politischen Gefangenen waren solche und solche. Ich sehe in Zukunft eher eine pluralistische Repräsentation. Wenn es uns gelingt, diese breite Allianz zusammenzuhalten, können wir es mit der Diktatur aufnehmen.

Abgeschoben in die USA

Dora María Téllez war 1978 an der Erstürmung des Nationalpalasts in Managua beteiligt. Nach dem Sturz des Regimes wurde sie Nicaraguas Gesundheitsministerin.

Später überwarf sie sich mit dem Sandinistenführer Daniel Ortega, der das Land in den Achtzigern regierte und zunehmend autoritär auftrat. 1994 gründete sie die Sandinistische Erneuerungsbewegung MRS mit. Am Aufstand gegen das neue Ortega-Regime (seit 2007) von April bis Juli 2018 war Téllez nicht beteiligt. Kurz vor den Präsidentschaftswahlen wurde sie im Juli 2021 festgenommen und später zu acht Jahren Haft verurteilt. Am 9. Februar liess das Regime Téllez und 221 weitere politische Gefangene frei, beraubte sie ihrer Staatsbürgerschaft und schob sie in die USA ab.