Filmfestival Fribourg: Aus einem Land mit nur drei Kinos

Nr. 11 –

In seiner Reihe über unbekannte Filmländer stellt das Filmfestival Fribourg erstmals ein europäisches Land vor: die Republik Moldau.

Filmstill aus dem Film «Carbon»: zwei Männer werfen Erde in ein Grab
Ade, gefundene Leiche: Szene aus «Carbon» von Ion Bors.

Ein junger Traktorfahrer und ein Veteran des Afghanistankriegs finden auf dem Weg zur Front eine verkohlte Leiche. Der Junge will sie liegen lassen, doch der Ältere besteht auf einem christlichen Begräbnis – er erinnert sich an so viele unbestattete Tote während seiner Kriegszeit. Als die zwei Männer mit der Leiche auf dem Traktor beim Dorfpfarrer vorfahren, hat der Wichtigeres zu tun: Mit Weihwasser segnet er gerade den glitzernden Mercedes eines Neureichen.

«Carbon» (2022) heisst der Spielfilm, aus dem diese Szene stammt, und Regisseur Ion Bors, geboren 1990 in der moldauischen Hauptstadt Chișinău, liefert im Vorspann den Kontext für seine schwarzhumorige Kriegssatire: «Nach der Auflösung der Sowjetunion eskalierten 1992 die Spannungen in der Republik Moldau und führten mit der Abspaltung des Territoriums von Transnistrien zu einem militärischen Konflikt. Einige nannten ihn Bürgerkrieg, andere sowjetische Besetzung, doch für viele war es ‹ein Krieg von Besoffenen›.»

«Der Film ist ein Meilenstein für das Kino der Republik Moldau», erklärt Ion Gnatiuc am Telefon in Chișinău. Der junge Produzent hat für das Filmfestival Fribourg (FIFF) eine Reihe mit moldauischen Filmen kuratiert: drei Spielfilme, vier Dokumentarfilme und zehn Kurzfilme, alle in den letzten zehn Jahren entstanden. «Carbon» ist der jüngste davon, seine Weltpremiere hatte der Film letzten Herbst in San Sebastián. Es war nicht das erste Mal, dass es ein moldauischer Film dort in den Wettbewerb schaffte. Sechs Jahre davor lief dort schon «Anishoara» von Ana-Felicia Scutelnicu, einer Absolventin der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin. Ihr leises Coming-of-Age-Drama erinnert ein wenig an frühe Filme des Iraners Abbas Kiarostami und ist jetzt ebenfalls am FIFF zu sehen – ein perfekter Kontrast zum respektlos-überdrehten «Carbon».

Nach dem Zerfall

Genau vierzig Jahre vor «Anishoara», im Jahr nach dem Tod von Diktator Franco, hatte ein moldauischer Regisseur in San Sebastián sogar den Hauptpreis gewonnen: Emil Loteanu mit «Tábor ujódit v niebo» («Gypsies Are Found Near Heaven»), einem opulenten historischen Melodrama nach einer Novelle von Maxim Gorki. Das Land, aus dem der Film stammte, hiess damals allerdings nicht Moldau, sondern: Sowjetunion. «Zu Sowjetzeiten hatten wir eine blühende Filmproduktion, in Chișinău gab es mehrere gut ausgestattete Filmstudios», erklärt Ion Gnatiuc. Mit der Unabhängigkeit 1991 und dem folgenden Krieg um Transnistrien sei die Filmproduktion dann weitgehend zusammengebrochen, die Studios verwaisten und zerfielen. «Das änderte sich erst ab 2016, als ein Filmgesetz verabschiedet wurde – vorher existierte keine staatliche Filmförderung.»

Derzeit werden pro Jahr rund zehn Projekte gefördert: vielleicht ein langer Spielfilm, drei bis vier Dokumentarfilme, der Rest Kurzfilme. Das Budget der staatlichen Filmförderung liege derzeit bei 410 000 Euro im Jahr, so Gnatiuc. Für ein Land mit 2,4 Millionen Einwohner:innen, das mit einer Fläche von 33 000 Quadratkilometern nur etwas kleiner als die Schweiz ist, ist das extrem wenig. Und wenn Ion Gnatiuc beiläufig erwähnt, dass es im ganzen Land gerade mal drei Kinos gebe, alle in Chișinău, verdeutlicht das die Bedingungen für das einheimische Filmschaffen. Den Begriff «Meilenstein» für «Carbon» erläutert er dann noch mit dem Hinweis, dass der Film seit Oktober ununterbrochen in einem der drei Kinos in Chișinău laufe. Mittlerweile zählt er über 80 000 Eintritte: «Eine direkte Konkurrenz zu ‹Avatar›», freut sich Gnatiuc.

Am anderen Ufer

Um den Konflikt in Transnistrien kreisen gleich mehrere Filme der Moldau-Reihe am FIFF. Das 3500 Quadratkilometer grosse Gebiet am östlichen Ufer des Dnister, das nur durch fünf Brücken mit dem Hauptteil des Landes verbunden ist, steht etwa in «Pigeon’s Milk» (2021) im Zentrum. Regisseur Eugene Marian hat in Moskau studiert und konnte dieses erstaunliche Gangsterdrama, das auf beiden Seiten des Flusses spielt, als Koproduktion zwischen Moldau und Russland realisieren. «Das war allerdings 2021, heute wäre es nicht mehr möglich», erklärt Gnatiuc. Natürlich lebe man seit dem 24. Februar 2022 mehr als früher mit der Angst, Putins nächstes Opfer zu werden. «Aber wir können uns auch nicht jeden Tag verrückt machen wegen eines nun schon seit dreissig Jahren eingefrorenen Konflikts.»

Wie es beidseits des Flusses aussieht, das vermittelt vor allem auch der Dokumentarfilm «Maluri» (2021). Regisseurin Lucia Taut zeigt darin, wie sich Familien, die durch den Fluss und den Konflikt getrennt sind, mittels Rufen verständigen und wie sie dank eines Bootsbesitzers, der gelegentlich die verbotene Flussüberquerung wagt, ihre Verbindung aufrechterhalten. Dabei wirkt die in überwältigender Schönheit erstrahlende Flusslandschaft als eigentliche Hauptfigur des Films. In einem anderen Dokumentarfilm der Reihe, «The Soviet Garden» (2019) von Dragoș Turea, wird dann Nikita Chruschtschow zitiert, der Ende der fünfziger Jahre befahl, Moldau müsse der «Garten der Sowjetunion» werden. Was für ein vergifteter Garten das wurde, zeigt der Film mit grimmigem Humor: Es ging um gross angelegte Versuche der Produktionssteigerung mittels radioaktiv bestrahlter Nutzpflanzen – ein Erbe, unter dem das Land bis heute leidet.

Festival International du Film de Fribourg: 17. bis 26. März 2023. www.fiff.ch