Türkische Diaspora: Die Gesichter all der Leichen

Nr. 11 –

Für diejenigen, die Angehörige verloren haben, ist seit dem Beben in der Türkei und Syrien nichts mehr, wie es war. Zwei Betroffene aus Basel über die verzweifelte Suche in den Trümmern und die Albträume, die sie seither heimsuchen.

Mehmet Yokus erzählt, wie er um die Überreste des Hauses herumrannte. Wie er weinte und schrie: «Ismail, halte durch, wir kommen!» Noch hatte er Hoffnung, dass sein Bruder, seine Schwägerin und sein Neffe unter den Trümmern am Leben waren. Einige Strassen weiter lag seine Schwester unter Betonplatten, auch von ihr kein Lebenszeichen. An einem anderen Ort, ebenfalls in der südtürkischen Stadt Kahramanmaraş, steht Barış Güven vor dem, was vom vierzehnstöckigen Wohnhaus seiner Schwester und ihrer Familie übrig geblieben ist. Das Gebäude daneben, von den gleichen Bauherrn errichtet, steht noch. «Ich verstehe das nicht», sagt Güven immer wieder.

Yokus und Güven sind beide in der Provinz Kahramanmaraş geboren. Beide leben seit Jahrzehnten im Kanton Basel. Jedes Jahr fahren sowohl Yokus als auch Güven für mehrere Wochen in die Türkei, um dort ihre Familien zu besuchen. Kahramanmaraş ist Heimat für sie. Die Männer kennen sich nicht, doch sie teilen ein Schicksal: Beide haben beim verheerenden Erdbeben Anfang Februar in der Region nahe der Grenze zu Syrien Angehörige verloren – und nachdem sie die ersten Nachrichten dazu erreichten, flogen sie umgehend dorthin. Wenn Yokus und Güven darüber auf Türkisch erzählen, müssen sie das Gespräch mehrmals unterbrechen. Immer wieder steigen die Tränen hoch, die sie dann hinunterschlucken. Während Yokus wirklich so heisst, möchte Güven nicht mit seinem richtigen Namen in der Zeitung stehen. Denn während Yokus bei seiner Suche nach seinen Verwandten etwas staatliche Unterstützung hatte, kann Güven überhaupt nichts Positives über die Bergungsarbeiten erzählen.

Die unfassbare Realität

Gemäss dem Bundesamt für Statistik leben über 106 000 Personen mit einem türkischen Hintergrund in der Schweiz. Während für die Mehrheitsgesellschaft die Tausende Kilometer entfernte Katastrophe nur eine Schlagzeile ist, ist es für die Betroffenen hier ein sehr persönliches Drama. In der Schweiz in Sicherheit zu sein und Familie und Freund:innen dort in Gefahr oder unter den Toten zu wissen, ist kaum zu ertragen.

Güven meinte zu wissen, was ihn am Ankunftsort erwartet. Doch er sagt auch, dass trotz aller Vorwarnungen und Nachrichtenbilder die Realität unfassbar gewesen sei. «Alles war zerstört, ein Durcheinander von Menschen im Schockzustand», es seien zu diesem Zeitpunkt keinerlei Rettungsmannschaften vor Ort gewesen. Am Tag vier nach dem Beben hat er noch Hoffnung, dass seine Angehörigen überlebt haben. Seine Familie und er überlegen, wie sie selbst die Betonplatten heben können, unter denen sie ihre Verwandten vermuten. Sie telefonieren, schreiben Mails, doch sie können nichts erreichen. Sie nächtigen in einem Cemevi, einem alevitischen Kulturhaus, und in Autos, wärmen sich an einem Feuer. Niemand kann schlafen, Duschen ist unmöglich, es ist bitterkalt. Nachdem sie sich an den staatlichen Katastrophenschutz Afad wenden, kann am fünften Tag sein Neffe geborgen werden. Am darauffolgenden Tag wird Güvens Schwager gefunden, am siebten Tag wird seine Schwester aus den Trümmern gezogen. Am Leben geblieben ist einzig deren Tochter, die in Istanbul lebt.

Yokus geht nach seiner Ankunft am dritten Tag direkt zum Afad, wo man ihm ein Rettungsteam mit auf den Weg gibt. Die Männer suchen bei den Trümmern, unter denen noch Stimmen zu hören sind. Die Tage verschwimmen, er ruht sich im Auto aus, der Geruch der Leichen wabert durch die Luft. Tagsüber rennt er zwischen dem Haus seiner Schwester und jenem seines Bruders hin und her. Er weiss, dass er Glück hatte, dass der Afad ihm so schnell geholfen hat. Ansonsten, so erzählt er, sei nichts koordiniert gewesen. «Die Regierung wusste, dass dieses Beben irgendwann passieren würde – und hat es ignoriert. Hätten sie gewollt, hätten sie mit einer verantwortungsvollen Vorbereitung Tausende Leben retten können», kritisiert er. Er sagt aber auch: «Ich habe Menschlichkeit erlebt. Wenn ich beim Afad etwas wollte, wurde mir geholfen. Wenn wer gerettet wurde, haben sich alle gefreut. Von überall aus dem Land sind Menschen gekommen, um zu helfen.» Die Fernsehmoderation Tuğba Södekoğlu von Show TV habe ihre Liveberichterstattung unterbrochen, um bei der Bergung zu helfen. «Die Hilfsbereitschaft der Menschen war wirksamer als die Regierung.»

Yokus’ Bruder Ismail, dessen Frau und deren achtzehnjähriger Sohn sind gestorben – nur die Tochter hat es rausgeschafft. Auch seine Schwester ist gestorben. «Wir haben sie nicht retten können», sagt Yokus, während er mit den Tränen ringt.

In Basel hat die grüne Nationalrätin Sibel Arslan einen Verein mitgegründet, der Spenden für die Opfer des Bebens sammelt. Die Schweiz ermöglicht Betroffenen derweil die erleichterte Einreise, sogenannte Fast-Track-Visa. «Grundsätzlich», sagt Sibel Arslan, «finde ich das Fast-Track-Visum gut. Aber es ist keine wirkliche Erleichterung, sondern nur eine leichte Beschleunigung des Verfahrens. Bei einem normalen Visumsantrag würde genau die gleiche Prozedur durchlaufen werden.» Kommen dürfen demnach nur Personen, die bei den Beben ihr Zuhause verloren haben, ein gültiges Reisedokument besitzen und «enge Verwandte» in der Schweiz haben. Wie auch sonst üblich dürfen die Personen nur neunzig Tage bleiben, sie müssen unter anderem eine Krankenversicherung vorweisen können, und die Verwandtschaft muss für sie bürgen.

Bisher nur 66 Visa

Anfang dieser Woche waren in Istanbul 237 solcher Visumsgesuche eingegangen, 66 Visa wurden ausgestellt. Für die Bearbeitung der Fast-Track-Visa stellt die Schweiz zwei zusätzliche Mitarbeiter:innen zur Verfügung. «Das ist Irreführung der Öffentlichkeit», urteilt Arslan. «Denn es hiess, man würde mehr Leute einstellen, und zwei Leute mehr für Zehntausende Erdbebenopfer ist sehr wenig.» Die Basler Politikerin schiebt hinterher: «Noch schlimmer finde ich die Respektlosigkeit gegenüber den in der Schweiz lebenden Bürger:innen, die hier Steuern zahlen und enge Familienangehörige in der Türkei haben. Ihre Interessen werden nicht genügend ernst genommen.»­

Barış Güven hat seiner Nichte angeboten, sich bei ihm zu erholen. Doch keine:r seiner Angehörigen wollte weg aus der Türkei. Mehmet Yokus hingegen möchte seine Nichte rasch zu sich holen – aber weil sie nicht als «enge Verwandte» zählt, erhält sie kein Fast-Track-Visum. «Wir haben gehofft, unseren Nächsten hier eine Auszeit ermöglichen zu können, doch das war nur Regierungspropaganda. Obwohl ich ihr Onkel bin, kann ich sie nicht so einfach hierherholen.» Yokus und Güven versuchen sich, zurück in der Schweiz, mit Arbeit und weiterer Hilfe abzulenken; doch nichts ist mehr, wie es einmal war. «Ich kann nicht mehr schlafen, wache alle dreissig Minuten auf, schreie in der Nacht, träume davon, dass ich verschüttet wurde», erzählt Yokus. Er kann die Gesichter all der Leichen nicht vergessen. Güven sagt, der Schmerz und das Ohnmachtsgefühl seien nicht zum Aushalten. «Aber wir müssen da durch, weil wir auch Kinder haben.»