Naturreservat in Baden: Der wilde Wald über dem Tunnel

Nr. 12 –

Seit 2019 ist WOZ-Fotograf Florian Bachmann immer wieder im Badener Reservat Teufelskeller unterwegs. Eine Annäherung an einen ganz besonderen Wald.

Bäume im Badener Reservat Teufelskeller

«Haben Sie gute Schuhe?», fragt Georg von Graefe. Wer hier den Weg verlässt, kommt auf schwieriges Terrain. Sinkt in tiefe Laubschichten, stolpert über verkeilte Baumstämme, muss Löchern ausweichen, die die Rottannen aufgerissen haben, die alle gleichzeitig umfielen, als am 26. Dezember 1999 Sturm Lothar den Wald durcheinanderwirbelte. Für den jungen Forstingenieur von Graefe damals eine Katastrophe: «Das Lebenswerk der Vorgängergeneration wurde in einer Stunde zerstört.» Allmählich verstand er, dass Lothar im Wald auch Platz für ganz viel Neues schaffte. Auch darum ist er heute Stadtoberförster von Baden. Das Forstamt der Aargauer Kleinstadt sucht schon lange nach Wegen, seine Wälder in die Zukunft zu bringen. Und die Ortsbürgergemeinde, die die Wälder besitzt, unterstützt es dabei.

Zur Zukunft gehört, auf manchen Flächen gar nicht einzugreifen, sondern einfach zu beobachten, wie sich der Wald entwickelt. Wie hier oben auf der Baregg, wo vor 23 Jahren kaum noch ein Baum stand. Jetzt wächst hier dichter Laubwald, Stämmchen an Stämmchen, Buchen, Ahorn, Birken, manche schon fünfzehn Meter hoch. Dazwischen vermodern die Lothar-Stämme, mit leuchtend grünen Moosteppichen bewachsen. «Ein reich gedeckter Tisch für holzfressende Käfer und Pilze, sogenannte Xylobionten», sagt der Förster. Nach etwa 200 Metern stossen wir wieder auf einen Weg. Es fühlt sich an, als wären wir weit weg gewesen.

Tobel mit Bäumen und Büschen im Badener Reservat Teufelskeller

Leise rauscht der Verkehr

Der junge Wald ist Teil des Waldreservats Teufelskeller. Seit 1987 steht das Kerngebiet unter Schutz; 1999, wenige Monate vor Lothar, wurde das Reservat stark vergrössert: von fünfzehn auf siebzig Hektaren. Die autofahrende Schweiz kennt diesen Berg von innen: Direkt unter dem Teufelskeller verläuft der Bareggtunnel. Das leise Rauschen des Verkehrs verschwindet in diesem Wald nie ganz. Doch der Kontrast könnte kaum grösser sein.

Gegen das Limmattal bricht das Plateau jäh ab. Darunter beginnt der eigentliche Teufelskeller, eine chaotische, instabile Landschaft aus Geröllhöckern, Steilhängen und Kesseln, entstanden durch einen «nacheiszeitlichen Schlipf», wie von Graefe sagt: Als der Linthgletscher schmolz, hielt nichts mehr den Hang, ganz ähnlich wie heute am Aletschgletscher. Zwischen hohen Buchen liegt überall Geröll, runde Steine, so gross wie Köpfe, irgendwo rieselt es immer. Efeugirlanden hängen von den Höckern, dazwischen wächst die Hirschzunge, ein seltener Farn mit glatten Blättern. Und auch hier umgestürzte Stämme jeden Alters, ein riesiges Mikadospiel. Der Forstdienst holzt die Wege frei, sonst macht er nichts. «In den Wald geht man auf eigene Gefahr, das gilt überall», sagt von Graefe. Am schönsten sei es hier bei Nebel.

Die Limmat, die Altstadt, die Industriegebiete und die Hügel: Baden besteht fast nur aus Siedlungsgebiet und Wald. Der Druck auf das Ökosystem sei entsprechend hoch, sagt der Förster, auch im Teufelskeller. «Er ist der Heimatwald der Badener, fast alle waren schon hier, mit der Familie oder der Pfadi.» Seit auch Mountainbikes Motoren haben, sind noch mehr Leute im Waldreservat unterwegs. Damit müsse man leben, meint von Graefe. Das findet auch der Wanderwegbetreuer, den wir kurz darauf treffen: Wenn jemand «No Bikes» auf die Wegweiser schreibt, putzt er es wieder weg.

Versorgungsstollen im Bareggtunnel
Lüftungsschlitze im Bareggtunnel

Bäume für die Hitze

Vor 200 Jahren sah der Badener Wald ganz anders aus als heute. «Die Wälder waren stark übernutzt […]. Der Wald war hell und lichtdurchflutet und ein sehr attraktiver Lebensraum für viele Vogel- und Insektenarten», schrieb Georg Schoop, von Graefes Vorvorgänger, vor knapp zwanzig Jahren. Das galt nicht nur für Baden, sondern für grosse Teile der Schweiz. Immer wieder verwüsteten im 19. Jahrhundert Hochwasser Städte und Dörfer. Für die Forstfachleute, die sich ab 1855 an der neuen ETH Zürich bildeten, war klar: Es lag am schütteren Zustand der Bergwälder, sie konnten das Wasser nicht zurückhalten. Heute weist vieles darauf hin, dass gegen die heftigsten Starkregen auch dichtere Wälder nichts hätten ausrichten können. Doch die Erklärung überzeugte, 1876 trat das Forstpolizeigesetz in Kraft. Das Rodungsverbot von damals gilt bis heute: Die Waldfläche darf nicht kleiner werden.

Der Druck auf den Wald nahm ab. Noch wichtiger als das neue Gesetz war allerdings etwas anderes: Fossile Kohle, dann Erdöl löste das Holz als wichtigsten Brennstoff ab. Die Konsequenzen, die damals noch niemand verstand, werfen einen Schatten auf den vermeintlichen Erfolg.

Vor hundert Jahren war aus dem lichten, von Geissen verbissenen Badener Laubwald ein dunkler Nadelwald geworden, optimiert auf Holzertrag. «Aus ökologischer Sicht war die klare Trennung von Wald und Nichtwald im Forstpolizeigesetz ein Sündenfall», sagt Matthias Bürgi, Leiter der Forschungseinheit Landschaftsdynamik an der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL). «Waldelemente im Offenland sind genauso eine Bereicherung wie Offenlandaspekte im Wald. Im dunklen, homogenen Wirtschaftswald können weder lichtliebende Arten überleben noch solche, die alte Bäume und Totholz brauchen.» Für die Vielfalt sei es vor allem wichtig, im Wald nicht überall dasselbe zu tun.

Genau das setze das Badener Forstamt heute um, erklärt Georg von Graefe, über eine Karte der Badener Wälder gebeugt. Im Reservat Unterwilerberg, wo viele seltene Eiben wachsen, wächst der Wald unkontrolliert wie im Teufelskeller. Im Sonderwaldreservat Sonnenberg fällt der Forstdienst hingegen gezielt Bäume, um einen lichten Eichenwald mit Orchideen und Schmetterlingen zu fördern. «Auch ausserhalb der Reservate lassen wir alte, knorrige Bäume stehen, in denen Vögel brüten können.» Dann spricht er eine grosse Frage an: «Wie bringen wir den Wald in die Klimazukunft?» Auf «Klimawaldinseln» pflanzt das Forstamt Bäume, die mit der Hitze gut zurechtkommen: Edelkastanien, Flaum- und Zerreichen aus Südeuropa, Orientbuchen aus dem Kaukasus und Atlaszedern aus Nordafrika. «Das sind Baumarten, die auch auf natürlichem Weg einwandern könnten. Aber leider fehlt uns die Zeit.» Entscheidend sei: «Wir wissen nicht, welche Kombination von Tieren und Pflanzen sich am besten auf die neue Situation einstellen kann. Darum fördern wir die Artenvielfalt möglichst breit.»

Baumkronen aus der Froschperspektive im Badener Reservat Teufelskeller
Pilzgewächs auf einem abgebrochenen Ast im Badener Reservat Teufelskeller

Vielfalt der Ränder

Zum Waldreservat Teufelskeller gehören auch dichte, homogene Rottannenwäldchen. Sie wurden vor etwa vierzig Jahren gepflanzt – die letzten ihrer Art. Viele Bäume haben keine Nadeln mehr. Die Rottanne, immer noch der wichtigste Wirtschaftsbaum, erträgt die heissen und trockenen Sommer der letzten Jahre ganz schlecht. Als Lothar den Nadelholzanteil im Badener Wald in einer Stunde von der Hälfte auf ein Drittel reduzierte, gab er einem Waldbaukonzept den Rest, das ohnehin keine Zukunft hatte.

Er sei gespannt, wie es in solchen rottannenreichen Beständen weitergehe, sagt von Graefe. «Setzen sich einzelne Bäume durch und werden gross? Oder bricht der Bestand flächig zusammen? Was kommt danach?» Am höchsten, hat er davor erklärt, sei die Vielfalt nicht unbedingt in den Reservaten, sondern an der Grenze zwischen Schutz und Nutzung, dunkel und hell. «Die Ränder sind interessanter als das Pure.»

morscher Baumstumpf im Badener Reservat Teufelskeller
verkohltes Holz bei einer Feuerstelle im Badener Reservat Teufelskeller