Energiepolitik: «Hunderte Kilometer Flüsse sind betroffen»

Nr. 12 –

Der Nationalrat will die Regelung kippen, dass Kraftwerksbetreiber mehr Restwasser in den Flüssen belassen müssen. Julia Brändle, Gewässerexpertin beim WWF, kritisiert den Entscheid heftig.

Ausbauziele im Solarbereich, eine Solarpflicht auf grossen Neubauten und Parkplätzen, ein Bekenntnis zur Effizienz: Vieles, was der Nationalrat in der Energiedebatte letzte Woche beschlossen hat, ist erfreulich – obwohl die SVP eine Solarpflicht auf Altbauten verhinderte. Für Empörung sorgt allerdings der knappe Entscheid zum Restwasser, der die ganze Vorlage gefährden könnte. Julia Brändle, Gewässerexpertin des WWF Schweiz, ordnet ein.

WOZ: Frau Brändle, der Nationalrat will die gesetzlich vorgesehene Erhöhung der Restwassermengen bis 2035 ausser Kraft setzen. Worum geht es beim Restwasser genau?

Julia Brändle: Es geht um den Teil des Wassers, der unterhalb einer Wasserentnahme oder einer Staustufe im Fluss bleibt. Die Regelung geht auf die Abstimmung zum Gewässerschutzgesetz von 1992 zurück. Damals hat man beschlossen, und zwar mit einer Zweidrittelmehrheit, dass angemessene Restwassermengen in Flüssen verbleiben sollen. Aber umgesetzt wird das bei bestehenden Wasserkraftanlagen erst, wenn die Konzession erneuert wird. Solange die alten, meist achtzigjährigen Konzessionen noch laufen, müssen die Betreiber das neue Recht nicht anwenden.

Angemessene Restwassermengen sind bei den meisten Kraftwerken noch nicht umgesetzt?

Genau. Der heutige Zustand ist für die Gewässerlebensräume besorgniserregend. Viele der mehr als 3000 Kilometer Restwasserstrecken, auch geschützte Auen und wichtige Laichgebiete, liegen einen Teil des Jahres trocken. Kraftwerksbetreiber müssen erst dann ausreichend Wasser in den Flüssen belassen, wenn die Konzession erneuert wird.

Wenn weniger Wasser durch die Turbinen strömt, sinkt die Stromproduktion. Kein Wunder, ist diese Regelung unter Druck.

Ja, aber der Nutzen einer Sistierung wäre minimal. Das zeigen die Zahlen des Bundesamts für Energie oder des Wasserwirtschaftsverbands. Bis 2035 geht es nur um etwa 200 Gigawattstunden im Jahr, die weniger produziert werden. Das sind ganz unbedeutende Mengen. Und mehr als die Hälfte davon erst noch im Sommer, wenn wir auch dank Solarenergie mehr als genug Strom haben werden. Zum Vergleich: Allein letztes Jahr wurden neue Solaranlagen gebaut, mit denen sich jährlich 1000 Gigawattstunden produzieren lassen.

Wenn der Nutzen gering ist, ist es auch der Schaden?

Leider nicht. Bis 2035 sind mehrere Hundert Kilometer Flüsse betroffen. Der angebliche Nutzen steht in keinem Verhältnis zum Schaden an der Natur. Und die Debatte im Parlament zeigt: Jenen, die sistieren wollen, geht es nicht nur um die nächsten zwölf Jahre. Sie wollen die Umsetzung des Volksentscheids zum Restwasser ganz verhindern, die Umweltgesetze abschwächen, die ihnen schon lange ein Dorn im Auge sind. Das zeigen die Zahlen zu den Produktionssteigerungen, die sie versprechen. Sie rechnen nicht bis 2035, sondern bis 2070. Die grosse Welle der Neukonzessionierungen kommt erst nach 2035.

Was bedeutet der Beschluss des Nationalrats für die Gewässerökosysteme?

Viele Gewässer werden streckenweise komplett trocken bleiben. Aber alles Leben an und in den Gewässern ist vom Wasser abhängig. Entsprechend leidet das gesamte Ökosystem, seien es Insekten, die im Wasser aufwachsen, Fische oder Singvögel, die sich von den Insekten ernähren. Oft kommt das Argument, man führe ja nur den Status quo weiter. Aber den Gewässern geht es heute schon sehr schlecht: Laut dem Bundesamt für Umwelt erfüllen sechzig Prozent der untersuchten Fliessgewässer die ökologischen Ziele der Gewässerschutzverordnung nicht. Und die Situation verschlechtert sich zusehends: Das Wasser wird durch die Erderhitzung immer wärmer, das gefährdet Fische wie Forellen oder Äschen. Häufigere Trockenperioden bringen die Gewässer, insbesondere die Restwasserstrecken, noch mehr an den Anschlag.

Der Ständerat kann den Restwasserentscheid im Sommer noch korrigieren. Falls er es nicht tut: Ergreifen die Umweltverbände dann das Referendum gegen das ganze Energiegesetz?

Der WWF macht am Ende eine Einschätzung des Gesamtpakets. Wenn man essenzielle Massnahmen zum Schutz der Natur wie angemessene Restwassermengen unnötig aufs Spiel setzt, wiegt das in dieser Gesamtbetrachtung sehr schwer. Denn der WWF setzt sich schon lange für genügend Wasser für lebendige Bäche und Flüsse ein.

Sie haben doch kein Interesse, dass die ganze Vorlage scheitert?

Nein. Uns ist eine sichere, klimafreundliche und naturverträgliche Energieversorgung wichtig. Wer aber mit einer sicheren Stromversorgung rasch vorwärtskommen will, setzt auf breit abgestützte Lösungen wie den Runden Tisch Wasserkraft, nicht auf Maximalforderungen auf Kosten der Natur. Klar ist: Die zentralen Pfeiler für die Energiewende liegen bei der Reduktion der Stromverschwendung, bei der Effizienz und beim raschen Ausbau der Fotovoltaik auf Infrastrukturen, Dächern und Fassaden, nicht beim Ausbau der Wasserkraft oder Abstrichen beim Restwasser.