Befangene Verfassungs­richter

Le Monde diplomatique –

Im französischen Conseil constitutionnel sitzen vor allem ehemalige Politikerinnen und Politiker

Seit die französische Regierung im Januar 2023 ihre Pläne für eine Rentenreform vorstellte, werden drei Bestimmungen der französischen Verfassung heiß diskutiert: Artikel 49 Absatz 3, mit dem die Regierung einen den Haushalt betreffenden Gesetzentwurf ohne Abstimmung in der Nationalversammlung verabschieden kann; Artikel 47.1, mit dem die Beratung des Gesetzentwurfs beschleunigt werden kann; und Artikel 44.3, mit dem der Senat gezwungen werden kann, über den gesamten Gesetzestext in einer einzigen Abstimmung zu entscheiden.

Von Artikel 49 hat die Regierung bekanntlich Mitte März Gebrauch gemacht, als sie ihre Rentenreform unter dem Etikett eines Nachtragshaushaltsgesetzes (projet de loi de financement rectificative de la sécurité sociale) verabschiedete. Zwei anschließende Misstrauensanträge – die bei der Anwendung des Verfassungsartikels 49 eingebracht werden können – wurden in der Nationalversammlung abgeschmettert. Vor diesem Hintergrund kam der Anrufung des französischen Verfassungsgerichts, des Conseil constitutionnel (Verfassungsrat), eine überragende Bedeutung zu.

Bei ihrer Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit des Reformgesetzes müssen sich die Richterinnen und Richter vor allem mit zwei Kritikpunkten auseinandersetzen: Der erste hebt darauf ab, dass mehrere Maßnahmen der Reform wie die Einführung eines sogenannten Senior-Index nicht im Entwurf eines Nachtragshaushalts zur Finanzierung der Sozialversicherung erscheinen dürfen, weil sie keine Auswirkungen auf den Staatshaushalt haben. Dieser Punkt dürfte allerdings im Verhältnis zum Kern der Reform eine untergeordnete Rolle spielen.

Der zweite Punkt verlangt vom Verfassungsrat eine Entscheidung in der Frage, ob die Regierung nicht das Verfahren zweckentfremdet, das 1996 unter Artikel 47.1 in die Verfassung aufgenommen wurde. Denn das beschleunigte Gesetzgebungsverfahren war mit Sicherheit nicht für Entscheidungen in einer für die Gesellschaft so essenziellen Frage wie dem gesetzlichen Renteneintrittsalter gedacht.

Die Hoffnungen, der Verfassungsrat könnte das Reformgesetz kippen, gründen allerdings auf einer Fantasievorstellung, auf einem konstitutionellen Narrativ, das sich über sehr lange Zeit in den Köpfen der Französinnen und Franzosen festgesetzt hat.

Die „Weisen in der Rue de Montpensier“ (dem Sitz des Conseil Constitutionnel) haben ein gutes Image, das allerdings wenig mit der Realität zu hat. Denn in Wahrheit hat der Verfassungsrat die Rechte und Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger seit vielen Jahren beschnitten und Wirtschaftsinteressen stets äußerst rücksichtsvoll behandelt.

Eine Gegenmacht ist er also keineswegs. Seine Zusammensetzung, sein Instrumentarium und seine Arbeitsweise werden den Anforderungen einer repräsentativen Demokratie auch nicht gerecht.

Das gravierendste Problem ist seine mangelnde Unparteilichkeit. Die Mitglieder des Verfassungsrats müssen immer wieder über das Schicksal ehemaliger Kolleginnen und Kollegen entscheiden, und sie urteilen über Gesetzestexte, an deren Ausarbeitung oder Umsetzung sie selbst mitgewirkt haben. Sie sind also Richter und Partei zugleich.

Das gilt zum einen für die Gesetze, über deren Verfassungskonformität das Gericht entscheidet, zum anderen aber auch für die Überprüfung von Parlaments-, Senats- oder Präsidentschaftswahlen. Seit den ersten Nominierungen im Jahr 1959 benennt jeder der drei höchsten Repräsentanten des Staats – der Präsident der Republik, der Präsident des Senats und der Präsident der Nationalversammlung – jeweils drei der neun Mitglieder des Verfassungsrats, seit 2010 muss außerdem ein Parlamentsausschuss zustimmen.

Diese Repräsentanten sehen im Verfassungsgericht jedoch eine Art „Altersheim für Persönlichkeiten, die bei Hofe geschätzt werden“, wie es der Rechtswissenschaftler Alain Supiot einmal formulierte. Gegenwärtig zählen zu den Mitgliedern zwei ehemalige Premierminister (Laurent Fabius und Alain Juppé), zwei Ex-Minister:innen (Jacqueline Gourault und Jacques Mézard), ein Ex-Parlamentarier (François Pillet) und eine frühere Generalsekretärin der Nationalversammlung (Corinne Luquiens); Véronique Malbec und François Séners haben früher Ministerbüros geleitet.

Die Vorsitzenden werden vom Präsidenten der Republik berufen und waren bisher ausnahmslos Abgeordnete, Minister, Präsident der Nationalversammlung oder Premierminister; Laurent Fabius hatte sogar nacheinander alle genannten Ämter inne. Als François Hollande ihn 2016 an die Spitze des Verfassungsrats berief, war er gerade Außenminister.

So kam es, dass er mit am Tisch saß, als der Verfassungsrat über das sogenannte El-Khomri-Gesetz (offiziell „Gesetz über die Beschäftigung, die Modernisierung des sozialen Dialogs und die Sicherung von Berufslaufbahnen“) beriet, obwohl der Gesetzentwurf von der Regierung stammte, der er selbst als Vizepremier angehört hatte.

Vor etwa einem Jahr war die Richterin Jacqueline Gourault an der Prüfung eines Gesetzentwurfs beteiligt, mit dem auf Betreiben der Immobilienwirtschaft das Einspruchsrecht gegen Baugenehmigungen begrenzt werden sollte. Sie selbst hatte sich als Ministerin für das Gesetz starkgemacht – und sogar die dazugehörige Durchführungsverordnung erlassen.

Nur eine einzige Volljuristin

Mitunter treibt diese Parteilichkeit groteske Blüten: Eine Entscheidung des Verfassungsrats vom Mai 2012, die dazu führte, dass das Urteil gegen den der sexuellen Belästigung schuldig gesprochenen Ex-Staatssekretär Gérard Ducray aufgehoben wurde, erging zu einem Zeitpunkt, als vier Mitglieder des Rats geschäftliche Beziehungen zu Ducray unterhielten; zwei davon waren unmittelbar am Urteil beteiligt.

Zudem besitzen die ernannten Richterinnen und Richter nur selten juristische Kompetenzen. Momentan kann allein die Richterin Véronique Malbec eine solide juristische Qualifikation und nennenswerte Berufserfahrung in der Justiz vorweisen. Aber auch sie hat die einschlägige Nähe zur Politik als ehemalige Büroleiterin des Justizministers.

In anderen Ländern sind Verfassungsrichter nicht nur Volljuristen, sondern haben auch hochqualifizierte Assistenten an ihrer Seite. In Frankreich ist dies nicht der Fall. Das führt zwangsläufig dazu, dass sie sich bei ihren Entscheidungen zuallererst von ihrem politischen Kompass leiten lassen.

Anders als die Verfassungsgerichte oder obersten Gerichtshöfe vergleichbarer demokratischer Staaten gibt sich der französische Verfassungsrat nicht mit der eigentlichen Bedeutung des Verfassungstextes ab. Die Folge ist, dass Entscheidungen deklamatorisch verkündet, aber nicht argumentativ hergeleitet werden. Wenn der Rat entscheidet, dass ein bestimmtes Gesetz mit der obersten Rechtsnorm vereinbar oder nicht vereinbar ist, lautet seine Begründung stets: Der Rat hat so entschieden, weil der Rat sagt, was er eben sagt. Welche Gründe ihn zu der Entscheidung bewogen haben, erfährt man nicht.

Ein ehemaliges Mitglied des Verfassungsrats räumt hinter vorgehaltener Hand ein, dass die „geistige Armut“ des Gremiums es auch für Beeinflussung von außen empfänglich mache. Besonders aufgeschlossen zeigt sich der Rat für die Interessen der Wirtschaft, die seit Jahren massiv und auf intransparenten Wegen Einfluss nimmt. Ehemalige Mitglieder machen auch kein Hehl daraus, dass die Schriftstücke, die sie von verschiedenen Lobbygruppen aus der Wirtschaft erhalten, für sie eine wertvolle Hilfe waren.

Das ist nicht nur ein Armutszeugnis, sondern zeugt auch von Leichtfertigkeit. So äußerte Fabius’ Vorgänger Jean-Louis Debré freimütig, er habe in seiner Amtszeit als Präsident des Verfassungsrats regelmäßig mit dem Präsidenten der Arbeitgebervereinigung Medef (Mouvement des entreprises de France) und Unternehmenschefs zu Mittag gespeist und sich mit ihnen über die Rechtsprechung des Rates unterhalten.

In seinen Memoiren schreibt Debré: „Lunch mit einem Dutzend Firmenchefs, mit denen ich mich getroffen hatte, um unsere Entscheidung über das Haushaltsgesetz für 2012 vorzubereiten. (…) Sie bedanken sich, dass ich sie eingeladen habe und regelmäßig anhöre. Das freut mich natürlich sehr.“1

Dass der Verfassungsrat derart innige Beziehungen zu den Mächtigen in Politik und Wirtschaft pflegt, hat weitreichende Konsequenzen. Beschneidungen der individuellen und kollektiven Freiheitsrechte werden mit einem Federstrich für verfassungsgemäß befunden, selbst wenn sie ganz offensichtlich gegen die Verfassung verstoßen.

Ein Beispiel ist die Entscheidung des Gesetzgebers zu Beginn der Coronapandemie, die Pflicht zur Prüfung sogenannter vorrangiger Fragen der Verfassungsmäßigkeit vorübergehend auszusetzen, so dass es nicht mehr möglich war, die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes feststellen zu lassen. Der Verfassungsrat bewertete diese Aussetzung am 26. März 2020 als verfassungskonform. Am 25. November 2022 ging der Rat noch einen Schritt weiter und erklärte es für zulässig, dass im französischen Überseedepartement Mayotte Identitätskontrollen prinzipiell ohne jede Einschränkung möglich sein sollen. Damit stellte er Mayotte praktisch außerhalb des Geltungsbereichs der Verfassung.

Zugleich hat der Rat ein sehr feines Gespür für die Erwartungen der wirtschaftlich Mächtigen und der Exekutive. So kassierte er in der Vergangenheit regelmäßig Gesetzentwürfe, die in seinen Augen die freie Entfaltung des Markts (etwa durch die Bekämpfung von Steuerhinterziehung oder Steuervermeidung) oder den Aufbau einer marktbeherrschenden Stellung behindern.

Dabei beruft er sich auf Prinzipien wie die unternehmerische Freiheit, die in keinem verfassungsrechtlichen Text explizit erwähnt wird, aber vom Rat quasi in den Verfassungsrang erhoben wurde. Auf derselben Grundlage verwarfen die Richterinnen und Richter im Juli 2015 das „Gesetz über ein soziales und solidarisches Wirtschaftssystem“. Dieses Gesetz sah die Möglichkeit vor, Unternehmensverkäufe gerichtlich anzufechten, wenn vor dem Verkauf die Beschäftigten nicht informiert wurden und ihnen somit die Chance genommen wurde, ein eigenes Übernahmeangebot vorzulegen.

Existierende Verfassungsbestimmungen, die ihrem Gesellschaftsbild zuwiderlaufen, ignorieren die Richterinnen und Richter hingegen gern. Ein prominentes Beispiel ist die Präambel der Verfassung von 1946, die ebenfalls Verfassungsrang besitzt. Darin heißt es: „Jeder Arbeiter nimmt durch die Vermittlung seiner Vertreter an der gemeinschaftlichen Festsetzung der Arbeitsbedingungen sowie an der Verwaltung der Unternehmen teil.“

Auch über Artikel 1 der Verfassung, in dem unter anderem der Charakter der Republik festgeschrieben wird, hat der Rat sich hinweggesetzt, als er die neoliberale Wende der französischen Politik abgesegnet hat. Das frühere Verfassungsratsmitglied Georges Vedel erklärte dazu, der Rat müsse keine bestimmte Wirtschaftsauffassung vertreten, da die Verfassung neutral sei.

Wer diesem – auch in Deutschland verbreiteten und seit vielen Jahren sorgsam gepflegten – Mythos von der wirtschaftspolitischen Neutralität der Verfassung anhängt, 2 hat sie nicht genau gelesen oder stellt sich bewusst blind für die soziale Dimension des Verfassungstextes. Für die Entscheidung, unternehmerische Freiheit und Vertragsfreiheit in der Hierarchie der Werte und Verfassungsnormen ganz nach oben zu setzen, gibt es Argumente. Sie wiegen aber nicht schwerer als andere, die für die Betonung sozialer Bestimmungen in der Verfassung sprechen.

1 Jean-Louis Debré, „Ce que ne pouvais pas dire“, Paris (Robert Laffont) 2017.

2 Siehe François Denord, Rachel Knaebel und Pierre Rimbert, „Schäubles Gehäuse“, LMd, August 2015.

Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld

Lauréline Fontaine ist Professorin für Staats- und Verfassungsrecht an der Université Sorbonne Nouvelle. Autorin von: „La Constitution maltraitée. Anatomie du Conseil constitutionelle“, Paris (Éditions Amsterdam) 2023.