Politik der Verachtung

Le Monde diplomatique –

Die Rentenreform offenbart, wie sehr Präsident Macron über die Mehrheit hinweg regiert

Sind wir noch in der Lage, eine Regierung zum Einlenken zu bewegen? Eine Entscheidung der Mächtigen zu kippen? Es ist noch nicht lange her, da war die Antwort in Frankreich klar: Angesichts entschlossener, gut organisierter sozialer Bewegungen mit langem Atem, die viele Menschen mobilisierten, wich die Regierung manchmal zurück.

Das zeigte, dass die Bevölkerung sich auch zwischen Wahlen Gehör verschaffen konnte, und ihre demokratische Teilhabe nicht auf den Urnengang beschränkt blieb. Auf diese Weise verschwanden diverse Projekte für immer in der Schublade: ein Gesetz zur Beschneidung der Rechte von Privatschulen 1984, ein Gesetz über das Zulassungsverfahren zu den Hochschulen 1986, der Berufseingliederungsvertrag 1993, einige der Sparpläne der Regierung Juppé 1995.

Es kam sogar vor, dass Verfechter einer unpopulären Reform abtreten mussten – wie 1986 der Minister für Hochschulbildung Alain Devaquet oder 2000 der Bildungsminister Claude Allègre.

Aber seit 2006 und dem erfolgreichen Kampf gegen die Einführung von Ersteinstellungsverträgen (Contrat première embauche, CPE), die in den ersten beiden Berufsjahren jederzeit Kündigungen ohne Angabe von Gründen ermöglicht hätten, hat es dergleichen nicht mehr gegeben. Auch wenn die Menschen noch so zahlreich protestierten, ein Misserfolg reihte sich an den anderen. Egal welche Strategie sie wählten, ob Bummelstreiks, Uni-Besetzungen oder spektakuläre Aktionen, geordnete Massendemonstrationen oder Riots: Die Proteste gegen das Gesetz über die Autonomie der Universitäten (das wachsenden Einfluss privater Geldgeber ermöglichte) 2007, gegen die Rentenreform 2010, gegen neue Arbeitsmarktgesetze 2016 und 2019, gegen die automatisierte digitale Studienplatzvergabe „Parcoursup“ 2018 – alle blieben erfolglos.

Das „Modell Thatcher“ hat Schule gemacht: Die Regierenden geben nicht nach, auch nicht bei wachsenden Müllbergen, leeren Tankstellen, ausfallenden Zügen, geschlossenen Schulen, blockierten Straßen. Unterbrechungen des Metrobetriebs nehmen sie ebenso hin wie wöchentliche oder gar tägliche Demonstrationen. Wenn die Lage vollends unerträglich wird, setzen sie auf Zwang und Repression. Diese Härte gilt mittlerweile als politisches Prädikat: „Der Straße widerstehen“ zeugt demnach vom Verantwortungsbewusstsein und vom politischen Mut der Regierenden.

Gewerkschaften ungewohnt einig

Der ehemalige Premierminister Édouard Philippe verkündete 2021 vor Studierenden einer elitären Wirtschaftsuni stolz: „Man weiß nie, welcher Tropfen das Fass zum Überlaufen bringt. 2017 haben wir die Arbeitsrechtsreform beschlossen. Ich sagte mir, das wird furchtbar. Denn ich erinnerte mich noch an das Arbeitsgesetz zwei Jahre zuvor, an die riesigen Demonstrationen, die maximale Spannung. Aber wir haben die Reform beschlossen, und sie ging durch. Wir haben die französische Eisenbahn reformiert, haben Schluss gemacht mit den Sonderrechten und private Konkurrenz zugelassen, und wir haben mit einer Komplettblockade gerechnet. Und dann ist gar nicht viel passiert, ein paar Streiks, das war alles. Wir haben gesagt, dass es an den höheren Bildungseinrichtungen Zulassungsverfahren geben soll. Wenn Sie die Nachrichten der letzten zwanzig, dreißig Jahre verfolgt haben, wissen Sie, was für ein Minenfeld das ist. Wir haben es gemacht, ein paar Unis wurden besetzt, wir haben sie geräumt, und es ging vorbei.“1

Aber dann kamen die Gelbwesten und zeigten, dass es nicht immer so einfach ist.

Emmanuel Macron hielt trotzdem an der bewährten Methode fest, in der Hoffnung, dass es vorbeigehen würde. Brachial zog er seine Rentenreform durch und überging die Protestbewegung, deren Ausmaß und Entschlossenheit er eigentlich hätte erkennen müssen. Zehnmal gingen nach Aufrufen der in ungewöhnlicher Einigkeit agierenden Gewerkschaften Millionen Menschen auf die Straße, in großen Städten wie in kleinen Orten, die nie zuvor derartige Demonstration erlebt hatten.

Die Meinungsumfragen, die der Élysée-Palast normalerweise sehr genau im Auge hat, sagten, dass 70 Prozent gegen die Reform seien, unter den Erwerbstätigen gar 90 Prozent. Die Zahlen stiegen noch, je belehrender die Regierung auftrat und je mehr Minister der Lügen überführt wurden: Denn nein, die Reform ist weder „notwendig“ noch „gerecht“. Und es stimmt auch nicht, dass sie „die Frauen schützt“ oder eine „Mindestrente in Höhe von 1200 Euro“ für alle garantiert. Wenn die Regierung Menschen zwei Jahre länger arbeiten lassen will, muss sie davon ausgehen, dass diese ihre Hausaufgaben machen und die Fakten checken.

Emmanuel Macron ist den Vorgaben der Europäischen Union gefolgt, die diese Rentenreform empfohlen hat, aber er hat es nicht geschafft, die französische Bevölkerung und ihre Abgeordneten zu überzeugen. Also beschloss er, die Entscheidung mit Macht durchzudrücken. Er setzte alle denkbaren Instrumente ein, um die parlamentarischen Debatten zeitlich zu beschränken (Artikel 47.1 der Verfassung); um die Diskussion über einen Gesetzesartikel zu beenden, sobald „mindestens zwei Redner mit gegensätzlichen Standpunkten das Wort ergriffen“ haben (Artikel 38 der Geschäftsordnung des Senats, der erstmals seit seiner Einführung 2015 angewandt wurde); um die Abgeordneten zu verpflichten, über die Reform als Ganzes und nicht Artikel für Artikel abzustimmen (Artikel 44.3).

Und schließlich zückte die Regierung von Premierministerin Élisabeth Borne am 16. März 2023 den berühmten Verfassungsartikel 49.3, der die Verabschiedung eines Gesetzes ohne Abstimmung im Parlament erlaubt.2 Es war ein bemerkenswertes Vorgehen für einen Präsidenten, der sich gern als Sprachrohr der freien Welt inszeniert und wortreich Autokraten und autoritäre Regime geißelt, für die ein Parlament rein dekorative Funktion hat, die den Willen des Volkes missachten und die Opposition mundtot machen.

Letztendlich entschieden über die Rentenreform, die das Leben der Französinnen und Franzosen in den nächsten Jahrzehnte maßgeblich verändern wird, nur die indirekt gewählten Senator:innen.3 Die beiden zusätzlichen Jahre Lebensarbeitszeit, die den Menschen ohne Zustimmung der von ihnen gewählten Nationalversammlung auferlegt wurden, wurden somit allein durch eine Institution legitimiert, in der eine Partei (Les Républicains) die Mehrheit hat, die bei der letzten Präsidentschaftswahl nicht mal 5 Prozent der Stimmen erhalten hat; zwei große politische Parteien (der rechtsextreme Rassemblement National, RN, und die linke La France Insoumise, LFI) sind darin gar nicht vertreten.

Emmanuel Macron sieht darin kein Problem: Die Reform stand in seinem Wahlprogramm, er hat die Wahl gewonnen, also haben die Bürger:innen zugestimmt. „Die Masse“ habe „keine Legitimität gegenüber dem Volk, das sich durch seine gewählten Vertreter:innen ausdrückt“, dozierte er am 21. März.

Vor einem Jahr, im Vorfeld des ersten Wahlgangs der Präsidentschaftswahl, war vom Thema Renten kaum die Rede, nicht zuletzt deshalb, weil Macron sich wie schon fünf Jahre zuvor öffentlichen Debatten mit seinen Konkurrent:innen verweigerte. Im Vordergrund standen stattdessen Themen wie Immigration, der Krieg in der Ukraine und ökonomische Unsicherheit. Im ersten Wahlgang erhielt Macron lediglich 20,7 Prozent der Stimmen.

Seinen Sieg im zweiten Wahlgang verdankte er hauptsächlich denjenigen, die ihm notgedrungen ihre Stimme gegeben hatten, um eine rechtsextreme Präsidentin Marine Le Pen zu verhindern, wie er selbst am Wahlabend, dem 24. April 2022, einräumte: „Ich weiß, dass viele unserer Landsleute nicht deshalb für mich gestimmt haben, weil sie die Ideen unterstützen, für die ich stehe, sondern weil sie die extreme Rechte aufhalten wollten. Mir ist bewusst, dass dieses Wahlergebnis eine Verpflichtung für die nächsten Jahre darstellt. Ich bin der Verwalter ihres Pflichtgefühls, ihrer Verbundenheit mit der Republik und ihres Respekts für die Unterschiede, die in den letzten Wochen zum Ausdruck gekommen sind.“ Kaum ausgesprochen, war diese Verpflichtung schon wieder vergessen.

Wozu noch wählen gehen?

Seit seiner Wahl bemüht sich Emmanuel Macron, über jede Form von Opposition hinwegzugehen oder sie zu unterdrücken. Die Nationalversammlung beschränkt sich wie schon in der vorigen Legislaturperiode darauf, die Beschlüsse der Regierung abzunicken. Wichtige Themen wie der Ukrainekrieg, die Waffenlieferungen an Kiew und die Sanktionen gegen Russland sind nicht Gegenstand ernsthafter Debatten mit anschließender Abstimmung.

Der Haushalt für 2023 wurde durchgesetzt, indem die Regierung nicht weniger als zehnmal auf Artikel 49.3 zurückgriff; die Reform der Arbeitslosenversicherung wurde in einem beschleunigten Verfahren verabschiedet, umstrittene Maßnahmen wurden heimlich per Dekret eingeführt.4 Sobald sich eine Kontroverse abzeichnete, schuf Macron Fakten und umging die gesellschaftliche Kontrolle demokratischer Machtausübung. Er ließ sich nicht einmal dazu herab, Gewerkschafter, die gegen die Rentenreform protestierten und um ein Gespräch gebeten hatten, zu empfangen.

Eine derartige Arroganz kann nur die Demokratieverdrossenheit noch befördern und das Gefühl verstärken, die Politik interessiere sich nicht für die Bürgerinnen und Bürger – was vor allem dem Rassemblement National in die Hände spielt. Am härtesten trifft die Rentenreform die untere Mittelschicht und diejenigen, die in körperlich anstrengenden Berufen arbeiten – beides Wählerreservoirs der extremen Rechten. Zugleich zeugt die Art, wie die Reform durchgezogen wird, von der Arroganz der Eliten gegenüber dem Volkszorn, und sie offenbart den Verfall der Institutionen. Marine Le Pen bekommt gute Argumente in Hand und wird sie zu gegebener Zeit nutzen.

Die Politik der Verachtung macht nicht nur eine Partei stark, die sich als Sprachrohr der Marginalisierten darstellt, sie hat auch eine immer niedrigere Wahlbeteiligung zur Folge. Wozu überhaupt wählen gehen, wenn die Nationalversammlung zum bloßen Schattentheater degradiert wird? Beim zweiten Wahlgang der Parlamentswahlen im Juni 2022, zwei Monate nach der Präsidentenwahl, blieben rund 53 Prozent der Stimmberechtigten den Urnen fern. Manche wussten nicht einmal, dass eine Wahl stattfand.

Der Politologe Jean-Yves Dormagen brachte es am 14. Juni 2022 in der Tageszeitung Le Figaro auf den Punkt: „Wenn wir zu den 53 Prozent Nichtwählern noch die 5 bis 6 Prozent hinzuzählen, die nicht in den Wählerverzeichnissen stehen, haben fast sechs von zehn Franzosen nicht gewählt. Das bedeutet, dass das Lager der parlamentarischen Mehrheit bestenfalls von einem Drittel oder sogar nur von einem Viertel der Bevölkerung gewählt wurde.“

Dabei gingen ältere Menschen mit höheren Bildungsabschlüssen „mit 80 Prozent Wahrscheinlichkeit zur Wahl“, jüngere Menschen mit geringer oder gar keiner Qualifikation hingegen gingen „mit 80 Prozent Wahrscheinlichkeit nicht wählen“. Und gerade die oberen Klassen, Akademiker:innen und Rentner:innen stellen die Kernwählerschaft des Präsidenten und der gemäßigten rechten Parteien, während die Jungen, die Geringqualifizierten und die Menschen in einkommensschwachen Viertel in der Regel dem RN oder der LFI zuneigen.

Macron profitiert also von der „Demokratie der Enthaltung“. Es scheint ihn nicht zu kümmern, dass die Kluft zwischen den Bürger:innen und den Gewählten dadurch tiefer wird, die Legitimität des Parlaments erodiert, das Misstrauen gegenüber der Politik wächst bis zu dem Punkt, dass Abgeordnete Polizeischutz verlangen.

1922 forderte Leo Trotzki vor der Kommunistischen Internationale, dass „neun Zehntel der der Partei zur Verfügung gestellten wählbaren Posten mit Arbeitern besetzt werden müssen, und zwar nicht mit solchen Arbeitern, die selber Funktionäre der Partei geworden sind, sondern mit Arbeitern, die noch im Betrieb oder auf dem Acker arbeiten“. Die Vertreter des Volkes müssten „Sitten, Auffassungen, Gewohnheiten“ des Volkes teilen.5

Hundert Jahre später sind von den 577 Abgeordneten der französischen Nationalversammlung nur fünf Arbeiter:innen, weniger als 1 Prozent, während der Arbeiteranteil in der Gesamtbevölkerung bei 16 Prozent liegt. Die präsidentielle Mehrheit (die Parteien Renaissance, MoDem, Horizons) besteht zu über 60 Prozent aus Führungskräften und Personen, die in gehobenen intellektuellen Berufen arbeiten, und nur zu 2 Prozent aus Angestellten, kein:e einzige:r Arbeiter:in findet sich in ihren Reihen.

Die meisten dieser Abgeordneten – Anwälte, Unternehmensberaterinnen, Banker, Chefinnen von Unternehmen, Ärztinnen – haben eine Elitehochschule besucht oder exklusive Studiengänge absolviert, wo sie unter ihresgleichen geblieben sind. Von der Realität im Land haben sie nur vage Kenntnis. Dank Zusatzrenten und reichlicher Rücklagen blicken sie einem finanziell abgesicherten Alter entgegen. Sie können die Wut nicht nachvollziehen, die die Rentenreform bei den Teilen der Bevölkerung ausgelöst hat, die bereits unter den Auswirkungen von Inflation, Gesundheits-, Energie- und Klimakrise leiden.

Während die Abgeordneten also eine homogene Gruppe bilden, zeichnen sich die diejenigen, die gegen die Rentenreform auf die Straße gehen, durch eine große soziale Heterogenität aus. Was haben Studierende, die oft aus privilegierten Schichten kommen, und Reinigungskräfte in Krankenhäusern gemeinsam? Oder Müllwerker:innen und Wissenschaftler:innen? Mechaniker:innen bei der SNCF und Ärztinnen und Ärzte mit eigener Praxis?

Für sie alle symbolisiert diese Reform, wie so viele vorangegangene, den Bruch zwischen dem politischen Führungspersonal, das entschlossen ist, soziale Errungenschaften abzubauen, und dem tiefen Wunsch der Menschen, die sozialen Institutionen zu schützen und sogar besser zu machen, um ein glückliches, anständiges und sinnerfülltes Leben zu ermöglichen. Die Regierung wickelt die bestehende Wirtschaftsordnung zu ihrem eigenen Schaden ab: Denn wenn man die am geringsten qualifizierten Beschäftigten und insbesondere die Frauen zwingt, zwei Jahre länger zu arbeiten, tauchen unweigerlich die Fragen auf: Wozu arbeite ich, warum und für wen?

Für diejenigen, die in systemrelevanten Bereichen im Bildungs- und Gesundheitswesen, im Reinigungssektor und in personenbezogenen Dienstleistungen beschäftigt sind, bedeutet die Verlängerung der Lebensarbeitszeit 24 Monate mehr Erschöpfung. Und das in einem Arbeitsleben, das durch Personalabbau und die Kaltherzigkeit eines lediglich an Kennzahlen orientierten Managements geprägt ist. So sorgen private wie öffentliche Unternehmen dafür, dass alte, pflegebedürftige Menschen ihr Lebensende unter unwürdigen Bedingungen verbringen müssen, während sie gleichzeitig den Pflegekräften mehr Schulungen zu „menschlichem Umgang“ nahelegen.

Für Beschäftige in den Bereichen Verkehr, Energie, Elektrizität und Telekommunikation, in den großen ehemaligen Staatsbetrieben, die in den westlichen Ländern einst die Infrastruktur aufbauten und in Schuss hielten und für die deshalb Sonderregelungen galten, die nach und nach abgeschafft wurden, bedeutet sie: Zwei Jahre länger daran mitwirken müssen, dass die letzte Spur von Orientierung auf das Gemeinwohl verschwindet. Stattdessen müssen sie Shareholder-Value schaffen oder Schulden abbauen.

Vielleicht schlagen die durch den brachialen Coup der Regierung ausgelösten Wellen der Empörung deshalb so hoch, weil hier so viel auf dem Spiel steht und es so rücksichtslos durchgedrückt wurde. Der Widerspruch ist unübersehbar: Auf der einen Seite haben wir eine Wirtschaftsordnung, die sich in der Vermarktung von bunten Handyhüllen, Verschmutzungsrechten und Gletscherwasser für 11 Euro die Flasche entfaltet. Auf der anderen Seite gibt es die Menschen, die es immer mehr empört, dass Politik nur noch in der Auswahl verschiedener Methoden besteht, ein gescheitertes Modell beizubehalten.

Auszusteigen, seinen „Bullshit-Job“ zu kündigen, um sich einen neuen zu suchen, setzt private Ressourcen voraus und löst im Grunde nichts. Das Ausmaß der „Great Resignation“, der massenhaften Flucht aus den Jobs auch bei Absolvent:innen von Elitehochschulen, wie sie auf beiden Seiten des Atlantiks zu beobachten ist, ist ein Hinweis darauf, dass dem System die Luft ausgeht. Es braucht Hoffnung. In Frankreich verkörperten 2018 die Gelbwesten Hoffnung. Die Wut über die Rentenreform setzt die Revolte fort und verbreitert ihre Basis.

Schon werden viele Vergleiche angestellt. „Als auf dem Höhepunkt der Proteste 284 000 Gelbwesten auf die Straße gingen, hat Emmanuel Macron 13 Milliarden lockergemacht, einfach weil es Gewalt gab“, sagte der Generalsekretär der Gewerkschaft CFDT, Laurent Berger am 12. März gegenüber Journal du dimanche. „Wir sind nach Angaben der Polizei 1,5 Millionen, die gewaltfrei protestieren, aber niemand hält es für nötig, mit uns zu sprechen.“ Und der Präsident des christdemokratischen Gewerkschaftsbunds CFTC, Cyril Chabanier, fragte im Februar: „Wir bringen dreimal so viele Menschen auf die Straße wie die Gelbwesten und werden nicht angehört. Müssen wir erst zuschlagen, um etwas zu erreichen?“

Der Protest ebbt nicht ab. Er wird größer, gewinnt an Intensität, niemand weiß, wie es enden wird. Der Conseil constitutionnel, das französische Verfassungsgericht, muss im April über die Gültigkeit der Reform entscheiden (siehe «Befangene Verfassungsrichter»). Aber wie das Urteil auch ausfällt, die Auseinandersetzung wird Spuren hinterlassen. Niemand tritt die Meinung des Volkes ungestraft mit Füßen: Millionen Französinnen und Franzosen erinnern sich noch heute an das Referendum vom 29. Mai 2005 über den Europäischen Verfassungsvertrag und daran, wie Regierung und Parlament damals ihr negatives Votum übergangen haben. Le Monde schrieb am 19. März, mehrere Vertraute Macrons hätten verlautet, der Präsident habe „keine Skrupel und bedauert nichts“. Dass er keine Skrupel hat, ist sicher. Ob er nichts bedauert, werden wir noch sehen.

1 Édouard Philippe bei den „Les Mardis de l’Essec“, 18. Mai 2021.

2 Siehe auch Léonardo Kahn, „Artikel 49.3“, Süddeutsche Zeitung, 17. März 2023.

3 Die Wahl der Senator:innen erfolgt zum größten Teil durch von Gemeinderäten eigens bestimmte Vertreter:innen.

4 Siehe beispielsweise „Assurance chômage: la gauche et les syndicats dénoncent un durcissement, en catimini’ à la veille de Noël“, BFMTV, 25. Dezember 2022.

5 Leo Trotzki, „Referat über die französische Frage“, IV. Weltkongress der Kommunistischen Internationale, 1. Dezember 1922.

Aus dem Französischen von Ursel Schäfer

Deutschland und Frankreich

Während in Frankreich seit Wochen massiv gestreikt und demonstriert wird, wundern sich viele Deutsche: Warum so viel Aufregung um die Anhebung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre, wenn wir doch bis 67 arbeiten müssen? Doch ganz so einfach ist es nicht.

62 Jahre ist das frühestmögliche Alter, um in Frankreich in den vorgezogenen Ruhestand zu gehen. Dafür muss man allerdings schon jetzt 41,5 Jahre (nach der Reform: 43 Jahre) in die Rentenversicherung eingezahlt haben. In Deutschland und der Schweiz gibt es die Frührente mit 63, in Deutschland bereits ab 35 Beitragsjahren – abschlagsfrei für alle bis Jahrgang 1953. Erst danach steigt das Alter schrittweise auf 67. Ab 45 Versicherungsjahren darf jede:r ohne Abschläge früher in Rente gehen.

Das reguläre Renteneintrittsalter, mit dem jede:r unabhängig von der Zahl der Beitragsjahre seine Rente abschlagsfrei ausgezahlt bekommt, beträgt in Frankreich schon jetzt 67 Jahre. In Deutschland gilt diese Altersgrenze erst für diejenigen, die ab 2031 in Rente gehen. In der Schweiz liegt es bei 65 Jahren. Im Augenblick gehen die Deutschen und die Schweizer laut dem EU Ageing Report beziehungsweise der OECD im Schnitt mit 64,6 Jahren in Rente, die Französ:innen mit 62,3 Jahren.

Ein wichtiger Kritikpunkt an der aktuellen französischen Rentenreform ist die Ungerechtigkeit der neuen Altersgrenze. Denn je nach Tätigkeit haben Menschen eine sehr unterschiedliche Lebenserwartung: Hochdotierte Führungskräfte leben in Frankreich 13 Jahre länger als Geringstverdiener. In Deutschland beträgt diese Differenz bei den Männern knapp 9 Jahre, bei den Frauen fällt der Abstand in beiden Ländern geringer aus.

Insgesamt verteidigen die Französ:innen ihr Modell des Wohlfahrtsstaats, das in den 1940er Jahren gemeinsam von allen politischen Parteien im Nationalen Widerstandsrat konzipiert und beschlossen wurde. Präsident François Mitterrand sprach bei seinem Regierungsantritt 1980 vom „Kampf um Lebenszeit“.

In Deutschland ist diese soziale Errungenschaft, den Lebensabend „frei von Not und Sorge“ zu erleben, wie es die CDU vor der Rentenreform 1957 formulierte, seit den Reformen der 2000er Jahre in Gefahr. Die gesetzliche Rente sichert offiziell nicht mehr den Lebensstandard der Arbeitnehmenden, sie sollen zusätzlich privat vorsorgen. Doch 30 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten haben weder eine Betriebs- noch eine Riester-Rente. Die Folge: Ein Fünftel der deutschen Rentner:innen sind armutsgefährdet.

Besonders prekär ist die Lage der Frauen, denn im Rentenalter addieren sich Lohnlücken und Auszeiten für Pflege und Erziehung zu einer gewaltigen Rentenlücke auf. Die Grundrente in Deutschland erfüllt ihren Zweck kaum: Nur wenige Mütter oder Geringverdienende bekommen die nötigen 33 Versicherungsjahre zusammen.

Die grundsätzliche Frage aller Rentenreformen lautet: Wie viel sind uns in einer alternden Gesellschaft die alten Menschen wirklich wert? In Frankreich (wie auch in Österreich) ist man durchaus bereit, mehr für die Älteren auszugeben – weil diese umgekehrt auch viel zurückgeben, sei es individuell durch Betreuung der Enkelkinder und Ehrenamt oder durch Konsum und Steuern an den Staat.

Frankreich und Österreich zahlen im Schnitt 70 Prozent höhere Bruttorenten als Deutschland. Deshalb sind die Rentenbeiträge – insbesondere der Arbeitgeber – in Frankreich deutlich höher, und der Staat gibt 14 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Altersversorgung aus. In Deutschland sind es dagegen nur 10 Prozent, ähnlich wie in der Schweiz (aber hier sind Betriebsrenten Pflicht). Die Folgen dieses Sparkurses werden in den nächsten Jahren deutlich sichtbar werden. Sabine Jainski