Massai in Tansania – Geschichte einer fortwährenden Vertreibung

Le Monde diplomatique –

ein Massai in Ngorongoro, 2023
Ngorongoro, 2023 Foto: CLÉMENT MARTIN

Eingehüllt in eine rote Shuka und mit dem Hirtenstab in der Hand empfängt uns Abel1 in seinem Boma, dem Gehöft seiner Familie im tansanischen Loliondo. Die runden Hütten und das Gehege sind umgeben von Brennnesseln und Dornengestrüpp, um die Herden vor Löwen zu schützen. Allerdings fürchten die Massai heutzutage weniger die Raubtiere als den Staat: „Fotografieren Sie nicht unsere Gesichter“, bittet unser Gastgeber, „und nichts, was diesen Ort kenntlich machen könnte.“

Abel hat gute Gründe für seine Vorsicht. Er ist gerade erst aus dem Gefängnis in Arusha gekommen, wo er mit 20 anderen Massai fünf Monate lang inhaftiert war. „Wir waren 70 Gefangene, zusammengepfercht in einer Zelle für maximal 25 Personen.“

Laut Abel hat es der Staat vor allem auf einflussreiche Persönlichkeiten abgesehen mit Kontakten zu westlichen Organisationen, die sich für die Rechte indigener Gemeinschaften einsetzen, wie die britische NGO Survival International oder das US-amerikanische Oakland Institute. Die Repressionen zielten in erster Linie auf den organisierten Protest gegen die Otterlo Business Corporation (OBC), ein Jagdunternehmen aus den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE).

Die Massai in Kenia und Tansania

Karte: Die Massai in Kenia und Tansania – Siedlungsgebiete und Nationalparks/Reservate
(grosse Ansicht der Karte)

Am 6. Juni 2022 hatte die Verwaltung der Region Arusha angekündigt, sie werde ein 1500 Quadratkilometer großes Gebiet im Bezirk Loliondo (östlich des Serengeti- und nördlich des Ngorongoro-Nationalparks) räumen lassen, um es der OBC zur exklusiven Nutzung zu überlassen. In den darauffolgenden Tagen pflanzten Polizist:innen mehr als 400 weiße Grenzpfähle mitten in die Savanne, um das Sperrgebiet zu markieren.

„Wir bekamen eine Vorladung“, erzählt Abel. Dort wurde ihnen mitgeteilt, dass Tansanias Präsidentin Samia Suluhu Hassan persönlich die Absperrung befohlen hat und man die Einzelheiten „später besprechen“ würde: „Natürlich haben wir dagegen protestiert. Wir wollten nicht nur alle Details wissen, sondern auch erfahren, was eigentlich unser zukünftiger Status in diesem Land ist und ob wir überhaupt noch als vollwertige Bürger anerkannt werden. Der Ton wurde schärfer, und am Ende mussten wir die Nacht auf der Polizeiwache verbringen.“

Zur selben Zeit verständigten sich die Massai aus den Bomas in der fraglichen Gegend per Smartphone untereinander und stellten sich den Polizist:innen entgegen.

In der Nacht vom 9. auf den 10. Juni rissen Demonstrierende zahlreiche Markierungen heraus. Am Morgen versuchten Polizist:innen die protestierenden Massai mit Tränengas und scharfer Munition zu vertreiben. Die Bilder von den Zusammenstößen verbreiteten sich über die sozialen Netzwerke. Dutzende Menschen wurden verletzt. Einige Demonstrierende waren mit Speer und Bogen gekommen. Der Polizist Carlus Mwita Garlus wurde von einem Pfeil in den Kopf getroffen und starb.

In den folgenden Tagen flohen hunderte Massai ins benachbarte Kenia, wo sie bei Verwandten unterkamen – viele Nomad:innen haben Familienangehörige beiderseits der Grenze. Innenminister Hamad Masauni ordnete eine Verstärkung der Grenzkontrollen sowie Ermittlungen gegen die NGOs an. Ende November 2022 kehrten die meisten Geflüchteten nach Tansania zurück, nachdem die Inhaftierten wieder freigelassen worden waren und keine weitere strafrechtliche Verfolgung mehr drohte.

70 000 Menschen dürften von den Vertreibungen in Loliondo betroffen sein. Abel erzählt, dass als Erstes ein Bußgeld von 100 000 kenianischen Schilling (40 Euro) verhängt wurde für das „illegale Überqueren der markierten Linie“. Da die Massai oft Tauschhandel betreiben und meistens gar kein Bargeld haben, mussten viele Beschuldigte ihre Kühe verkaufen – „zu einem niedrigen Preis, da es Trockenzeit war und die Tiere abgemagert waren“, so ein Augenzeuge. „Wenn die Leute nicht zahlen können, nehmen die Behörden ihnen ihre Herden weg.“

Pappfiguren von Bernhard Grzimek und Präsident Nyerere im Besucherzentrum des Serengeti-Nationalparks
Pappfiguren von Bernhard Grzimek und Präsident Nyerere im Besucherzentrum des Serengeti-Nationalparks Foto: FABIAN VON POSER/picture alliance/imageBROKER

Laut einer Untersuchung des Oakland Institute wurden im November und Dezember 2022 insgesamt 5880 Rinder und 767 Schafe beschlagnahmt.2 Auch in diesem Jahr wurden bereits viele Tiere konfisziert – „alles unter dem Vorwand des Naturschutzes!“, schimpft Abel. „Als ob uns die Regierung beibringen kann, wie man die Umwelt schützt. Im Gegensatz zu diesen reichen Ausländern töten wir nämlich keine Wildtiere, sondern leben mit ihnen. Wir stellen keine Gefahr für sie dar. Der Beweis: Wo Massai sind, ob in Tansania oder Kenia, gibt es die meisten wilden Tiere.“

Dagegen vertreten die Internationale Union zur Bewahrung der Natur (IUCN) und der World Wide Fund for Nature (WWF) ein Naturparkkonzept ohne Menschen3 – obwohl zumindest der WWF inzwischen anerkennt, dass die Hirt:innen und Sammler:innen wohl doch einen wertvollen Beitrag zum Erhalt der Biodiversität leisten: 91 Prozent der Gebiete, in denen indigene Gemeinschaften leben, befänden sich in einem „guten ökologischen Zustand“.4

Platz für arabische Großwildjäger

Schon die britische Kolonialmacht hatte 1904 und 1911 die Massai von 50 bis 70 Prozent ihres Territoriums in Britisch-Ostafrika (dem späteren Kenia) vertrieben, damit sich die Tiere dort ungehindert vermehren können. Der Schutz der Fauna war hier allerdings nur ein Vorwand. Man brauchte die Löwen und Antilopen vor allem als Beute für britische Großwildjäger:innen, die zuvor schon die Tiger auf dem indischen Subkontinent nahezu ausgerottet hatten.5

Und in den 1950er Jahren behauptete der Direktor des Frankfurter Zoos und populäre Tierfilmer Bernhard Grzimek – bis 1945 war er NSDAP-Mitglied und Regierungsrat im Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft gewesen –, die Massai würden die Unberührtheit der Natur gefährden. Sein in Tanganjika (dem späteren Tansania) gedrehter Film „Serengeti darf nicht sterben“ erhielt 1960 den Oscar für den besten Dokumentarfilm.

Es war auch Grzimek, der zunächst die britische Mandatsverwaltung von Tanganjika und nach der Gründung der Vereinigten Republik Tansania auch deren ersten Präsidenten Julius Nyerere (1922–1999) davon überzeugt hat, die Hirt:innen aus der Serengeti und dem Ngorongoro-Schutzgebiet zu vertreiben.

Das in Bezug auf die afrikanischen Nationalparks bis heute vertretene „Ideal einer von ihren Bewohner:innen befreiten Natur“ bezeichnet der französische Umwelthistoriker Guillaume Blanc als puren „grünen Kolonialismus“: „In der Kolonialzeit gab es den zivilisatorischen Auftrag des weißen Mannes. Heutzutage gibt es den ökologischen Auftrag des westlichen Experten.“6 Wie wichtig die Weidewirtschaft aber für den Erhalt der Biodiversität ist, beweist etwa der bewohnte südfranzösische Nationalpark der Cevennen. Doch „in Afrika muss ein Nationalpark leer sein“, stellt Blanc resigniert fest.

Nach der Unabhängigkeit machten nicht wenige ehemalige Kolonialbeamte eine zweite Karriere in den Naturparkverwaltungen. Die neuen Staaten schützten die Wildreservate aber nicht nur für die Tourismusförderung. Es ging immer auch um die politische Kontrolle der ethnischen Minderheiten. Nun sind die Massai zwar Nomad:innen mit einer starken kriegerischen Tradition, aber sie jagen nicht mehr. Die Zeiten, in denen ein junger Krieger einen Löwen töten musste, um seine Stärke zu beweisen, sind längst vorbei. Die Hirt:innen vermeiden auch wegen möglicher Ansteckungen durch Tierseuchen jeden Kontakt zwischen ihren Kühen und Gnus.

In der Serengeti, aus der die Massai 1959 vertrieben wurden, müssen die Ranger:innen nun regelmäßig Buschwerk entfernen, um ein invasives Unkraut, den Behaarten Zweizahn, einzudämmen. Und seit dem Artenschutzgesetz, das 1974 das Weiden in Naturschutzgebieten weitgehend verboten hat, hat die Vielfalt an Pflanzenfressern abgenommen.7 „Wir leiden bereits unter den Auswirkungen der globalen Erwärmung“, klagt Abel. „Und jetzt haben wir auch noch das Problem mit der OBC. Ich weiß nicht, was aus uns werden soll.“

Die OBC, die schon seit 1992 Großwildjagden in Tansania veranstaltet, gehört der Al Ali Holding von Mohammed Abdulrahim Al Ali, einem Brigadegeneral und ehemals stellvertretenden Verteidigungsminister der VAE, dessen Name 2015 in den Panama Papers auftauchte. Zu seinen Kunden zählen unter anderem der Emir von Dubai, Scheich Mohammed bin Raschid al-Maktum, und dessen Sohn Prinz Hamdan. In OBCs Social-Media-Posts kommen die jüngsten Gewaltausbrüche in Loliondo nicht vor.

Dafür sieht man viele Fotos von Massai-Frauen an einem Brunnen, den UAE Water Aid gegraben hat. Diese Hilfsorganisation wird von einer von al-Maktum gegründeten Stiftung finanziert. „Die Gemeinden in der Umgebung einer Jagdkonzession sollten durch Entwicklungsprogramme davon profitieren“, erklärte die OBC am 13. Dezember 2017 auf Twitter.

Das Unternehmen wirbt auch mit seiner „nachhaltigen Jagd“. Doch die lokale Presse und die kenianische Massai Environmental Resources Coalition prangern seit über 20 Jahren missbräuchliche Praktiken an, wie die Treibjagd vom Hubschrauber aus, Salzstein als Köder oder Verstöße gegen Jagdquoten.

Das Loliondo-Wildreservat liegt auf den Wanderrouten von Pflanzenfressern und Raubtieren. In Kenia, wo schon 1977 die Großwildjagd verboten wurde, stellten die Behörden bereits in den 2000er Jahren einen Rückgang der Tierbestände nach der Loliondo-Durchquerung fest. Zur OBC-Konzession gehört außerdem eine eigene private Landebahn, die direkte Flugverbindungen an den Golf ermöglicht. Manche Massai vermuten, dass auf diesem Weg afrikanische Wildtiere in den Zoo von Dubai geschmuggelt werden.8

Die gewaltsamen Vertreibungen von Massai aus dem Jagdrevier der OBC begannen am 4. Juli 2009, als Polizisten der Field Force Unit etwa 200 Bomas in Brand setzten. Das Vorgehen der staatlichen Stellen wurde von der unabhängigen tansanischen Menschenrechtskommission, vom dänischen Botschafter in Tansania, Bjarne H. Sorensen, sowie vom UN-Sonderberichterstatter für die Rechte indigener Völker, James Anaya, scharf verurteilt. Zudem lässt auch die tansanische Gesetzgebung ein solches Handeln nicht zu, da die Konzession der OBC kein Landrecht beinhaltet.9

Im Laufe des Jahres 2013 und im August 2017 kam es zu weiteren Vertreibungen. Doch im Oktober 2017 entließ der damalige tansanische Präsident John Pombe Magufuli den Minister für Tourismus und natürliche Ressourcen, Jummane Maghembe. Der neue Minister Hamisi Kigwangalla stoppte die Räumungen und ordnete die Rückgabe des beschlagnahmten Viehs an. Außerdem beantragte er eine Untersuchung durch das Antikorruptionsbüro und entließ Staatsbedienstete, die im Verdacht standen, die OBC zu begünstigen, darunter den Leiter der Wildtierabteilung im Ministerium, Alexander Songorwa, sowie mehrere Sicherheitskräfte.10

Der OBC-Geschäftsführer, der Tansanier Isaac Mollel, kam zeitweise sogar in Haft. Und Abdulrahmane Kinana, Generalsekretär der Regierungspartei Chama Cha Mapinduzi (Revolutionspartei), wurde im Mai 2018 wegen des Verdachts der Bestechlichkeit zugunsten der OBC zum Rücktritt gezwungen. Die Tage der OBC in Tansania schienen gezählt.

Im März 2021 verstarb Präsident Magufuli plötzlich und unerwartet (vermutlich an Corona). Samia Suluhu Hassan, die bis dahin als seine Stellvertreterin fungiert hatte und nun sein Amt übernahm, unterhält ausgezeichnete Beziehungen zu den VAE. Bei ihrem Staatsbesuch in Dubai im Februar 2022 wurde der Burj Khalifa, der höchste Wolkenkratzer der Welt, in den tansanischen Nationalfarben angestrahlt. Im April 2022 förderte die Präsidentin zudem die Ernennung des umstrittenen Kinana zum zweiten Vorsitzenden der Regierungspartei.

Vier Monate nach ihrer Dubai-Reise ordnete Suluhu an, das Wildreservat Loliondo einzuzäunen und zu räumen, wobei sie das Wort „Vertreibung“ vermied. „Alle haben Angst“, seufzt der Clanchef Charles. „Meine Familie wurde 1959 aus der Serengeti vertrieben. Damals wurde mit den Briten vereinbart, dass so etwas nie mehr passieren würde. Wir wurden betrogen.“ Die aktuelle Aussiedlungspolitik umfasst auch das Ngorongoro-Schutzgebiet (Ngorongoro Conservation Area). In der Massai-Sprache Maa bedeutet das Wort „ngorongoro“ Glocke – eine Anspielung auf den Widerhall des Kuhglockengeläuts in dem gleichnamigen Einbruchkrater eines alten Vulkans.

Der gigantische Ngorongoro-Krater bildet das Herzstück des 1959 auf Grzimeks Betreiben eingerichteten Naturschutzgebiets, durch das jedes Jahr eine halbe Million Tourist:innen mit dem Jeep brausen. Zwar mussten die Massai nach 1974 den Krater verlassen, doch für den Rest des Schutzgebiets gilt eine Mischnutzung, das heißt, Weidewirtschaft wird toleriert.

Mindestens 80 000 Massai leben in diesem Gebiet, in dem es neben zahlreichen Bomas auch feste Häuser, mehrere Schulen und ein Krankenhaus gibt. Viele der Bewohner:innen stammen von Familien ab, die aus der Serengeti zwangsausgesiedelt wurden.

Nach ihrer Fotosafari im Ngorongoro-Krater besuchen Tourist:innen in der Regel auch noch einen Boma, um sich eine Tanz- und Gesangsvorführung anzuschauen, oder sie lassen sich zeigen, wie man Feuer ohne Streichhölzer macht. Und ihnen wird Kunsthandwerk verkauft, vor allem bunte Perlenarmbänder. Die Massai sprechen die Tourist:innen oft mit dem Swahili-Spruch „Hakuna Matata“ an, was so viel heißt wie: „alles in Ordnung“. Weltweit bekannt wurden die Worte durch den Disney-Film „Der König der Löwen“ (1994). Der US-Konzern sicherte sich dafür sogar die Markenrechte.

Seit Januar 2022 äußerten sich Politiker:innen immer wieder besorgt über die „Überbevölkerung“ des Gebiets. Schließlich seien die Massai in den 1960er Jahren nur ein paar tausend Menschen gewesen. „Wir sind dabei, den Ngorongoro zu verlieren“, sagt die Präsidentin, die ein „Programm zur freiwilligen Umsiedlung“ ins Leben gerufen hat. Im Februar 2022 traf sich Premierminister Kassim Majaliwaa mit den Einwohner:innen von Ngorongoro und unterbreitete ihnen den „Vorschlag“ zu gehen. Doch laut mehreren von uns befragten Personen war zu diesem Zeitpunkt längst alles entschieden.

Schon im Dezember sei mit dem Bau von Häusern im weit entfernten Handeni (siehe Karte) begonnen worden, um die Vertriebenen aufzunehmen. Jede Familie soll ein Haus, zwei Hektar Land und eine Entschädigung von 10 Millionen Schilling (4000 Euro) bekommen. Im Januar 2022 hatten bereits rund 5000 Massai das Ngorongoro-Gebiet verlassen und weitere 5000 bereiteten sich auf ihren Weggang vor. Das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte rügte am 15. Juni 2022 „eine willkürliche, nach internationalem Recht verbotene Umsiedlung“, ohne „freiwillige, vorangegangene und informierte Zustimmung“.

Die Behörden locken nicht nur mit Häusern in anderen Regionen, sie reduzieren auch systematisch Dienstleistungen innerhalb der Ngorongoro Conservation Area. Seit 1965 betreibt die Diözese Arusha die Klinik in Endulen. Diese behandelt täglich etwa 20 Patient:innen. Doch nachdem der Staat seine Zuschüsse gestrichen hat, mussten Leute entlassen werden. Jetzt ist sie nur noch eine Krankenstation.

Seit 2021 erteilen die Behörden in dem Gebiet keine Baugenehmigungen mehr, wodurch auch die Renovierung der Gebäude verhindert wird. Der Flying Medical Service, eine NGO mit Sitz in Arusha, die mit Ambulanzen im Kleinflugzeug die Kranken in den isolierten Bomas versorgt hat, darf Ngorongoro nicht mehr ansteuern. Im Umland von Endulen haben wir gesehen, wie verlassene Häuser und Bomas zerstört wurden, um eine Rückkehr der Bewohner:innen zu verhindern. Arbeiter:innen waren gerade dabei, eine Schule für 400 Schüler:innen, die Osotwa Primary School, abzureißen. Acht weitere sollen folgen, ebenso vier Kirchen und sogar eine Polizeistation.

„Wir sind nicht in Loliondo. Hier gäbe es viel zu viele Zeugen“, erklärt Daniel, eine gut informierte Quelle in Endulen. „Tourismus und Gewalt passen nicht zusammen. Der Druck, um die Leute zu vertreiben, wird daher auf sanftere Weise ausgeübt.“ Ohne Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung bleibt der Bevölkerung aber gar keine andere Wahl als zu gehen. Fünf Luxushotels sollen hier entstehen. „Der Naturschutz ist nur ein Vorwand, das eigentliche Ziel ist die Entwicklung des Tourismus“, sagt Daniel. „Und das wird viel größere Auswirkungen auf die Umwelt haben, als die Massai jemals haben könnten.“

Naturschutz als Vorwand

600 Kilometer weiter östlich, in der Region Tanga, liegt der Ort Msomera, in dem Vertriebene aus Ngorongoro neu angesiedelt werden. In dieser viel dichter bewohnten Region leben schon seit Generationen sesshaft gewordene Massai-Familien, die Landwirtschaft betreiben; sie bauen vor allem Mais und Bohnen an. Ihr Lebensstil unterscheidet sich deutlich von dem der halbnomadischen Massai im Westen. Eine Gruppe von Alteingesessenen berichtet, wie schockiert sie waren, als die Behörden auf ihrem Land Häuser für die Neuankömmlinge errichten ließen.

Sie hätten „nichts mehr zu verlieren“, sagen sie und entscheiden allen Risiken zum Trotz, dass wir ihren vollen Namen veröffentlichen dürfen. Wir steigen in einen Wagen mit getönten Scheiben, damit sie uns ihr Elend zeigen können. Auf Umwegen entgehen wir den Straßensperren der Armee. „Die Leute aus Ngorongoro wurden einfach auf unserem Land angesiedelt“, klagt William Kanyinge, ein 60-jähriger Clanchef, der stolz seinen Oringa-Herscherstab trägt. „Die lokalen Medien haben nie darüber berichtet, und die Behörden bedrohen jeden, der protestiert.“

Unsere Führer zeigen auf kleine grüne Häuser mit Wellblechdächern: „Ich habe 35 Jahre auf diesem Land gelebt und wurde vertrieben, damit hier diese Häuser und sogar eine Kirche gebaut werden“, wettert Emmanuel Kilossu. „40 von 50 Hektar“ habe er so verloren.

Lukas Simeon zeigt auf Grabsteine: „Hier war mein Zuhause. Sehen Sie hier, die Gräber meiner Vorfahren! Sie haben mein Land den Vertriebenen gegeben, und ich darf es nicht mehr betreten.“ Als die rechtmäßigen Besitzer:innen versuchten, ihr Land zu bewirtschaften, riefen die neuen Bewohner:innen die Polizei. „Bisher überleben wir mit den Erträgen aus dem letzten Jahr und mit Hilfe von Verwandten. Aber was wird nächstes Jahr aus uns?“, sorgt sich Kilossu.

Deneth Mwarabu musste mit ansehen, wie sein Land einem ehemaligen Abgeordneten aus Ngorongoro geschenkt wurde. Die Beziehungen zu den Vertriebenen sind dementsprechend schlecht: „Unsere und ihre Kinder bekämpfen sich in der Schule. Sobald das Militär weg ist, könnte es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommen.“ Die Neuen verbarrikadieren sich schon hinter hohen Zäunen.

Im Artikel 24 der tansanischen Verfassung von 1977 werden die traditionellen Landrechte der Massai anerkannt. Für die Beschlagnahmung von Land gibt es also eigentlich hohe juristische Hürden. In Arusha will der Anwalt Joseph Oleshangay die Enteignungen in Msomera vor Gericht anfechten. Am 30. September 2022 mussten die sesshaften Massai jedoch einen Rückschlag hinnehmen: Der Ostafrikanische Gerichtshof (EACJ) wies ihre Klage gegen die Behörden ab. „Der Staat schätzt die Massai nur als Touristenattraktion“, sagt Oleshangay. „Sobald sie jedoch für ihre Rechte eintreten, gelten sie nicht mehr als vollwertige Bürger.“

1 Wo nur ein Vorname genannt ist, baten die Gesprächspartner darum, aus Sicherheitsgründen anonym zu bleiben.

2 „Tanzanian Government Resorts to Cattle Seizures to Further Restrict Livelihoods of Massai Pastoralists“, Oakland Institute, Oakland (Kalifornien), 24. Januar 2023.

3„The state of indigenous peoples’ and local communities’ lands and territories“, 7. Juni 2021, IUCN.org.

4 John Vidal, „Armed ecoguards funded by WWF,beat up Congo tribespeople' “, The Guard, London, 7. Februar 2020.

5 Vgl. Lotte Hughes, „Moving the Massai: a colonial misadventure“, Basingstoke (Polgrave McMillan) 2006, sowie „Massai eviction: Tanzania is repeating Kenya colonial past“, The Star, Nairobi, 25. Juli 2022.

6 Guillaume Blanc, „L’invention du colonialisme vert. Pour en finir avec le mythe de l’Eden africaine“, Paris (Flammarion) 2022.

7 Ismael Selemani, „Indigenous knowledge and rangelands biodiversity conservation in Tanzania: success and failure“, Biodiversity and conservation, Bd. 29, Nr. 14, Springer Nature, Dezember 2020.

8 Vgl. John Mbaria, „Game Carnage in Tanzania alarms Kenya“, The East African, Nairobi, 4. Februar 2002, sowie „The killing fields of Loliondo“, Massaierc.org.

9„Tanzania Human Rights Report 2009: State of indigenous people: the Massai forceful eviction“, April 2010, www.humanrights.or.tz.

10 Siehe „Kigwangalla suspends ministry's wildlife director“, The Citizen, Daressalam, 6. November 2017, updated 17. April 2021.

Aus dem Französischen von Nicola Liebert

Cédric Gouverneur ist Journalist.