Literatur: Bis jemand den Stöpsel zieht

Nr. 19 –

Coming-of-Age-Geschichte als Langzeitgedicht: Ralph Tharayils Debüt «Nimm die Alpen weg» erzählt vom Aufwachsen eines namenlosen Geschwisterpaars und von der Enge der Welt.

Portraitfoto von Ralph Tharayil
Gedichte, die einsam unterwegs sind: Ralph Tharayil.

Berlin – Zürich – Hamburg: Ralph Tharayil ist gefragt in diesen Tagen und mit seinem Roman auf Lesetour. Kurz vor einem Auftritt im Migros-Museum für Gegenwartskunst sitzt er im Kulturcafé Das Gleis in Zürich. Erst möchte er nichts trinken, bestellt sich dann aber doch einen Espresso macchiato.

«Nieder mit den Alpen! Freie Sicht aufs Mittelmeer», so lautete eine Parole der Jugendprotestbewegung in Zürich vor vierzig Jahren. Und obwohl Tharayils Erstling «Nimm die Alpen weg» heisst, habe das Buch nicht viel damit zu tun: «Ich bin in den achtziger Jahren in Liestal geboren; wenn ich mich auf eine Jugendbewegung beziehe, dann wäre sie in den neunziger Jahren – dann wären das Viva und MTV.»

Zwischen Schilf und Schule

Wenngleich sie eher zwischen den Zeilen lauern, als laut postuliert zu werden: Forderungen lassen sich aus Ralph Tharayils ­ungewöhnlicher Coming-of-Age-Geschichte über ein namenloses Geschwisterpaar durchaus herauslesen. «Nimm die Alpen weg, rufen wir und / machen Spass. / Es geht immer / bergauf», heisst es an einer Stelle.

Das Universum der Kinder erstreckt sich zwischen dem Schilf, der Telefonzelle, der Müllhalde, der Schule und dem Zuhause bei den Eltern. Einer starren Chronologie folgt der Text ebenso wenig, wie er sich einer literarischen Gattung zuschreiben lässt. Wer sich von der Bezeichnung «Roman» auf dem Cover beeinflussen lässt, wird überrascht sein über die ungebundene lyrische Form und eine verdichtete Sprache, die starke Bilder hervorruft. Zu Beginn heisst es etwa: «Wir denken an Ma und Pa, bis jemand / im Becken den Stöpsel zieht.»

Die Kinder sind im Freibad, vermutlich wird kein Stöpsel gezogen. Aber mit solchen Wendungen entfesseln die Zeilen eine anziehende poetische Kraft: Jeder Nachmittag im Freibad ist irgendwann vorüber, genauso wie die Kindheit irgendwann abrupt zu Ende sein kann. Dieses Gefühl verfolgt einen durch das Buch, in dem in Versen, die sich nicht reimen, nach und nach eine ganze Familiengeschichte evoziert wird.

Auf der einen Seite dieser Geschichte stehen die Eltern, die an einer Stelle als eine Hindugottheit mit vier Armen beschrieben werden und die die Sprache eines Landes sprechen, das den Krieg von allen Seiten kennt. Und auf der anderen Seite das Geschwisterpaar wie ein chorisches «Wir», das in einem Land aufwächst, das den Krieg nur von Weitem kennt, und die Sprache der Eltern oft nicht mehr versteht.

Sieben Jahre hat Ralph Tharayil am Text gearbeitet. «Nach jeder einzelnen Seite habe ich mich gefragt, ob ich das tun soll, ob ich das schaffe oder ob es am Ende mich schafft», sagt er. Eine Geschichte zu erzählen und gleichzeitig ihre poetischen und narrativen Bedingungen zu reflektieren, Seite um Seite, das sei die grösste Herausforderung gewesen. Immer wieder habe er den Text liegen lassen und andere Projekte verfolgt, etwa Hörstücke produziert oder am Theater gearbeitet. Tharayil studierte Geschichte, Medien- und Literaturwissenschaft in Basel, mit Mitte zwanzig zog er nach Hamburg, heute lebt er in Berlin: «Ich wollte immer nach New York, die Verheissung des Melting Pot. Aber es ist Berlin geworden. Und ich bin froh darum.»

Subtile Grausamkeit

In der Grossstadt fernab der Alpen ist sein Romandebüt entstanden, das zuweilen an die Arbeit der verstorbenen Schriftstellerin Aglaja Veteranyi erinnert. Auch sie hat in ihrem Erstling, «Warum das Kind in der Polenta kocht», mit verknappten, assoziativen Sätzen eine Kindheit beschrieben. Veteranyi sagte einmal, sie hätte den Roman nicht anders schreiben können: «Nur aus der Perspektive des Kindes heraus war ich fähig, all das Grausame, Moralische dieser Geschichte zu erzählen.» Damit meinte sie etwa die Gewaltausbrüche des Vaters, die dem Kind widerfahren. Eine ähnliche Tendenz lässt sich bei Tharayil beobachten, auch wenn sich das Grausame hier ganz anders äussert, etwa in subtilen Spannungen, die die Kinder aushalten müssen. Immer wieder beschreibt er eine bedrückende Enge, der sie ausgeliefert sind: «Wir können die Enge kaum berühren. / Wir sitzen uns / im Nacken».

«Das Wort ‹Enge› ist fast Palindrom – ein Wort, das sich in beide Richtungen lesen lässt», sagt der Autor. Die Enge an sich könne auch in zwei Richtungen gefühlt werden: «Einerseits nach aussen, in die Enge der Gesellschaft, in der die Kinder leben, und andererseits die Enge nach innen, zu ihren eigenen Eltern.» Sein Buch handle aber nicht nur von der familiären und der gesellschaftlichen Enge. Es gehe ihm um die Enge der Welt mit ihren Wörtern, ihren Bedeutungen, die Welt der Zuschreibungen: «In diese Welt werden wir alle geworfen.»

So bleiben die Kinder in seinem Buch konsequenterweise namenlos, weil Namen nicht nur gewählt würden, um uns zu rufen, «sondern auch, um uns zu berufen, um uns zu benennen, um uns zu denunzieren», so Tharayil. Seine Protagonist:innen sind zwar auf der Suche nach der eigenen Benennung, weshalb sie auch mal das Telefonbuch nach ihren eigenen Namen durchforsten, aber sie wollen keine Zuschreibung von aussen, die in der immer wiederkehrenden Frage des Woher auftaucht.

Das liest sich im Buch so: «Woher kommt ihr, fragen unsere Freunde in der Schule. / Sie wissen nicht, dass das Staunen keinen Ort besitzt. / Woher kommt ihr, fragt der Mann mit dem Audi, fragt uns das Telefonbuch. Woher, fragen sogar Ma und Pa, wenn wir / zurückkommen von der Telefonzelle. / Wir können das Woher nicht beschreiben, nur was / es umgibt. / Wir spielen Radio. / Aufnahme». Indem sie Radio spielen, was an dieser Stelle bedeutet, dass sie eine Kassette bespielen, versuchen die Kinder, das Woher, nach dem sie gefragt werden, zu beschreiben, aber es gelingt nicht. Also wird die Aufnahme gestoppt. Sie könnte jetzt gelöscht oder überspielt werden.

«Im Bruch des geschmeidigen Satzes, in jeder Zäsur, in jedem Unterbruch besteht das Potenzial, eine Geschichte neu zu erzählen», führt Tharayil aus. Sein Text versuche nicht, vom Ursprung zu erzählen, sondern vom kaum Sagbaren: «Dass das Gedicht nicht ankommt, dass es unterwegs ist und einsam, genau wie die Menschen, die in ihm zu Wort kommen.»

Trennlinien offenlegen

Spielerisch gehen die Kinder auch mit den Wörtern «Bodenheizung» und «Carport» (Autoeinstellplatz) um, die später im Buch immer mehr auftauchen. Es sind Dinge, die sich die Eltern nun leisten können, nachdem sie bis zur Erschöpfung gearbeitet haben. Die Wörter sind im Text kursiv und kleingeschrieben. «Im Grunde genommen sind sie ‹falsch› geschrieben», sagt Tharayil. Damit reflektiere der Text die Sprache der Eltern, der die Kinder keinen semantischen Wert zumessen können. Die Kinder interessieren sich für die grossgeschriebenen: fürs Spielen und Fläzen. Fürs Träumen. Das sei für ihn der Klassenkonflikt, sprachlich ausgedrückt. «Und der wird auch nicht aufgelöst.»

Vielleicht ist es genau dieses Nichtauflösen, das «Nimm die Alpen weg» so wertvoll macht. Tharayil versucht, sie nicht aufzulösen oder zu erklären, die Trennlinien in der Familie oder in der Gesellschaft. Aber er hat eine Sprache gefunden, um sie offenzulegen.

Buchcover von «Nimm die Alpen weg»

Ralph Tharayil: «Nimm die Alpen weg». Roman. Verlag Voland & Quist. Berlin 2023. 128 Seiten. 32 Franken.

Der Autor liest am Freitag, 12. Mai 2023, um 20 Uhr im Literaturhaus Zürich und tritt von Freitag, 19. Mai 2023, bis Sonntag, 21. Mai 2023, an mehreren Veranstaltungen an den Literaturtagen in Solothurn auf.