Von oben herab: Am Fenster

Nr. 19 –

Stefan Gärtner zieht nicht in die Sveits

Mein Schreibtisch ist zwar meist unaufgeräumt, und seine (unaufgeräumten) Schubladen schliessen nicht recht, aber wer an ihm sitzt, hat einen wunderbaren Blick ins Grüne: Direkt auf zwölf Uhr prangt violett der Flieder, und auf zwei Uhr streut ein grosser Ahorn seine Kinder auf den Rasen, wo ich sie dann alle paar Wochen unter den Mäher nehmen muss, damit ich nicht beizeiten im Wald wohne, denn so weit geht die Liebe zur Natur nicht. Meine Frau zöge lieber wieder in die Stadt, also vom Hügel runter, und grad könnten wir tatsächlich zügeln, ich müsste nur zustimmen, werde aber den Gedanken nicht los: Dann zügelte ich ja ins Graue!

Sehr geistreich, einerseits; andererseits bin ich mir da auch unheimlich, denn aus dem Grünen komme ich ja und dachte immer, dass es gut sei, da weg zu sein. Zwar ist die Reserve gegens Vor- und Kleinstädtische noch ungebrochen, doch so gross ist die Sehnsucht nach dem urbanen Mittendrin (sofern es das hier in W. überhaupt gibt) dann nicht, dass ich alles liegen und stehen liesse, nur damit vorm Fenster wieder Verkehr rauscht und nicht der Ahorn. Seit die Kinder auf der Welt sind, ist es mit Spontan-in-die-Beiz eh vorbei, und das Gros meiner Zeit verbringe ich am Schreibtischfenster, und viel grüner wars vor Goethes Weimarer Gartenhaus auch nicht. Und fällt mir einmal nichts ein, kann ich auf den Balkon gehen, wo sich der Blick noch einmal weitet, auf 180 Grad und auf Pflanzen, deren Namen ich nur selten kenne, die aber das von Adorno so dringlich behandelte Naturschöne recht eindrucks- und nämlich friedvoll in Szene setzen. Eigentlich will ich hier weg, denn die Miete ist zu hoch; andererseits, tja.

Paradoxerweise wird es so sein, dass ich zu wenig verdiene, um entschlossen das Weite zu suchen, wenn es mir zu teuer wird. Die Schweiz, schreibt jetzt der «Tagi», wird zurzeit überrannt von «norwegischen Milliardären und Multimillionärinnen», die vor der heimischen Steuer nach Zug, Schwyz, Luzern oder Lugano flüchten. In der «Sveits», wie sie in Norwegen sagen, ist es nämlich wie in Norwegen: schöne Natur, viele Seen, gute Schulen, nur viel billiger, jedenfalls für Milliardäre und Multimillionärinnen, die, wenn sie umziehen, nämlich nicht ins Graue ziehen, sondern ins rundum Agreable. «Die Schweiz ist vor allem deshalb so attraktiv, weil aufgrund eines Abkommens mit Norwegen die Vermögenssteuer ab dem ersten Tag der Ansiedlung das Land wechselt», weiss der «Tagi». «Ausserdem ist der Steuersatz in Nidwalden oder Schwyz bis zu zehnmal niedriger, und es gibt weitere Vorteile, zum Beispiel bei der Dividendenbesteuerung», und der Cappuccino ist selbst in Zürich nicht wesentlich teurer als in Oslo. Über die Qualität der norwegischen Schokolade liegen mir zwar keine Informationen vor, aber wie gut kann sie sein? Und warum also bleiben?

Weil eine norwegische Firma bitte nicht nur ihre Verluste sozialisieren soll und Steuerflüchtlinge unpatriotisch sind? Aber ist Patriotismus denn etwas, was Linke gutheissen dürfen, und war in der WOZ nicht neulich noch die Rede davon, man müsse das mit den Grenzen jetzt endlich einmal überwinden? Doch warum stosse ich, wenn das Ziel doch die grenzenlose Menschheit ist, dann im Internet auf eine Deklinationstabelle für das Wort «Menschin»? Und warum heisst es eigentlich nicht «Steuergeflüchtete»? «So viele Fragen» (Brecht), und das Kapital ist eben ein scheues Reh, und wenn es in der Schweiz weniger Wölfe gibt, wären die Rehe ja bescheuert.

Derweil sitze ich still, lasse die Inflation und das Mensch, dem das Fenster gehört, mein Konto leer räumen und bin zu faul, um herauszufinden, was vorm Ausguck von Blaise Pascal so los war; schreibt er doch sinngemäss, alles Unglück beginne damit, dass die Leute nicht zu Hause bleiben könnten. Aber Pascals Vater war halt auch Steuerkommissar.

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.

Sein Buch «Terrorsprache» ist im WOZ-Shop erhältlich unter www.woz.ch/shop.