Wahlen in Thailand: «Die Nase voll von dem Bullshit»

Nr. 19 –

Thailands progressive Jugendbewegung hat den politischen Diskurs im Land verändert. Wie beeinflusst dieser Wandel die Wahlen am Sonntag?

Die Losverkäuferin am Eingang zur Central Shopping Mall in Bangkoks Stadtteil Bang Na freut sich sichtlich, als sie Khun Piyarat «Toto» Chongthep sieht. Sie begrüsst den Kandidaten der progressiven Move-Forward-Partei mit zum V – «Victory» – geformtem Zeige- und Mittelfinger. Khun Toto unterhält sich kurz mit der Frau, bevor er mit seinen Helfer:innen auf Wahlkampftour in die Mall geht. Dort begrüssen Menschen jeglichen Alters den 32-Jährigen, knipsen Selfies, sein Assistent Patcharandanai «FiFie» Rawangsub streamt die Veranstaltung live auf Tiktok.

Wird bei den Wahlen am Sonntag ein demokratischer Wandel gelingen? Oder kann sich die vom Militär gestützte Regierung von Putschgeneral und Premierminister Prayut Chan-o-cha weiterhin an der Macht halten?

Neue Kritik an der Monarchie

Thailands jüngeren Generationen kommt bei der ersten Wahl seit den grossen Jugendprotesten 2020 eine Schlüsselrolle zu. Mit etwas über vierzig Prozent der 52 Millionen Wahlberechtigten sind die unter 42-Jährigen die grösste demografische Gruppe. Kernforderungen der Jugendbewegung waren eine Verfassungsänderung, um die politische Dominanz der Armee zu brechen, sowie die Reform der Monarchie. Als Gründer des Netzwerks «WeVo» – We Volunteer – war Toto eine der zentralen Personen der Proteste und wurde deshalb von den Sicherheitsorganen mit der Pegasus-Spyware überwacht. Die «WeVo»-Aktivist:innen schützten Protestgruppen vor Übergriffen der Polizei.

Die Proteste veränderten den politischen Diskurs in Thailand grundlegend: Erstmalig wird offen über bisherige Tabuthemen gesprochen, etwa die Reform des strengen Majestätsbeleidigungsgesetzes, das die Monarchie und ihre Institutionen vor jeglicher Kritik schützen will. Move Forward setzt sich als einzige Partei für die Reform des Majestätsbeleidigungsparagrafen 112 ein.

Die grosse Frage für die Szenarien nach der Wahl wird aber das Abschneiden der Partei Pheu Thai (PT) des ehemaligen, vom Militär gestürzten Premierministers Thaksin Shinawatra sein. Thaksin lebt seit 2008 im Exil, ist aber die treibende Kraft hinter der PT, die jetzt von seiner Tochter Paetongtarn Shinawatra geführt wird. Die 36-Jährige hat das Ziel, 310 der insgesamt 750 Sitze im Parlament (von denen 250 von der Armee bestimmt werden) zu erobern, die den Premierminister wählen. Das würde es der PT zusammen mit einigen kleineren Parteien ermöglichen, das Amt zu übernehmen.

Die PT wird ihr ehrgeiziges Ziel möglicherweise nicht erreichen. Ein Grund ist Move Forward, die ebenfalls das Antiestablishmentlager umwirbt und mit der ehrgeizigsten politischen Reformagenda aller Parteien im Wahlkampf auftritt. Glaubt man den Umfragen kurz vor der Wahl, ist Move Forward in ganz Thailand so populär wie Khun Toto in der Shopping Mall. Es scheint nicht mehr völlig unmöglich, dass die bisher als stärkste Kraft gehandelte PT auf dem zweiten Platz landet.

Fragmentierte Gesellschaft

Einen politischen Wechsel in Thailand will auch der Lehrer Korakod «Toon» Intarachot: «Viele junge Leute haben die Nase voll von dem ganzen Bullshit», sagt der 34-Jährige beim Gespräch in einem Café in Bangkok. Er selbst, so Toon, habe allerdings bei den Protesten 2020 nicht mitgemacht. «Als Lehrer muss ich politisch neutral sein.» Die Stimmung in seinem Freundeskreis kurz vor der Wahl beschreibt er aber so: «Viele sagen, wer für Prayut und seine United-Thai-Nation-Partei stimmt, ist nicht mehr mein Freund.»

Selbst für die Politologin Kanokrat Lertchoosakul ist das Wahlverhalten ihrer Landsleute unvorhersehbar. Die junge Generation sei ebenso fragmentiert wie die konservative Elite, sagt die Wissenschaftlerin, die an der Chulalongkorn-Universität in Bangkok zur neuen Jugendbewegung forscht. «Aber viele Konservative haben in den vergangenen Jahren dazugelernt und kapiert, dass sie nicht mehr gegen die Bevölkerung regieren können.»

Unklar ist auch, ob der Wunsch nach demokratischen Reformen oder «Brot und Butter»-Themen für die Wähler:innen Priorität haben. Thailands Wirtschaft geht es – durch die Covid-19-Krise als auch die schlechte Wirtschaftsbilanz der Regierung von Premierminister Prayut – nicht sonderlich gut. An populistischen Wahlversprechen wie der Ankündigung der PT, im Fall des Wahlsiegs jedem und jeder Thailänder:in über sechzehn Jahren umgerechnet 264 Schweizer Franken in eine digitale Geldbörse zu überweisen, mangelt es nicht.

Was nach der Wahl passiert, ist ebenfalls völlig offen. Seit 2001 hatten die immer wieder verbotenen und unter ähnlichen Namen wiederauferstandenen Thaksin-Parteien haushoch jede Wahl gewonnen – und sind immer wieder durch Militärputsche gestürzt worden. Wird die konservative Elite dieses Mal einen demokratischen Wechsel akzeptieren? Werden Peu Thai und Move Forward zusammengehen, oder wird eine Kooperation am Paragrafen 112 scheitern? Hat die PT, wie Gerüchten zufolge, womöglich längst einen Deal mit den Konservativen geschlossen? Und: Wird die Jugend gegen eine solche Koalition auf die Strasse gehen? Politologin Lertchoosakul sagt: «Alles kann passieren. Nur einen Putsch wird es nicht geben.»