Die Linke in Grossbritannien: No Future mit Labour

Nr. 19 –

Die britische Labour-Partei ist in einem Umfragehoch, in den Lokalwahlen vergangene Woche schnitt sie glänzend ab. Aber immer mehr Linke erkennen ihre Partei nicht wieder – und setzen lieber auf Basisarbeit.

Oberflächlich betrachtet wählte Emma Dent Coad einen unglücklichen Zeitpunkt für ihren Parteiaustritt. Am vergangenen Donnerstag, gut eine Woche nachdem die ehemalige Abgeordnete bekannt gegeben hatte, nach fast vierzig Jahren ihre Labour-Mitgliedschaft zu kündigen, errang die Partei ihren grössten Erfolg seit langer Zeit.

Bei den englischen Kommunalwahlen gewann die Opposition mehr als 500 Sitze hinzu, zum ersten Mal seit zwanzig Jahren ist Labour die stärkste Partei in der Lokalpolitik. Umfragen zeigen, dass die Opposition in der nächsten Parlamentswahl, die wohl 2024 stattfindet, auf einen Sieg zusteuert; der Parteivorsitzende Keir Starmer sieht sich schon als nächster Premierminister.

Gebrochene Versprechen

«Das mag alles stimmen», sagt Emma Dent Coad. «Aber Gewinnen ist nicht alles.» Die Politikerin, die nunmehr als Unabhängige im Gemeinderat von Kensington and Chelsea sitzt, ist 68 Jahre alt und spricht per Zoom von ihrem Büro aus. Es ist bald sechs Jahre her, dass Dent Coad ein bisschen Geschichte schrieb. Am 9. Juni 2017 gewann sie den Unterhaussitz Kensington für die Labour-Partei, mit einem hauchdünnen Vorsprung von zwanzig Stimmen. Der Wahlkreis im Westen Londons, der reichste im ganzen Land, war seit jeher tief Tory-blau. Dass die Arbeiterpartei hier gewann, kam für viele einer Sensation gleich.

Auch jenseits von Kensington zählten jene Wochen zu den aufregendsten, die die britische Linke in den vergangenen Jahrzehnten erlebt hat. Die Labour-Partei unter dem Vorsitzenden Jeremy Corbyn vermochte im ganzen Land, Leute zu begeistern, vor allem jüngere. Das allseits prognostizierte Wahldebakel im Juni 2017 blieb aus: Labour gewann Hunderttausende Stimmen hinzu, die Fraktion wuchs um dreissig Abgeordnete.

Aber seither ist es nur bergab gegangen. Gelähmt durch die Brexit-Debatten, erlebte eine zerstrittene Labour-Partei im Dezember 2019 ein Wahldebakel, auch Emma Dent Coad verlor ihren Sitz, wenn auch überaus knapp. Wenige Monate danach trat Keir Starmer die Nachfolge Corbyns an. Dent Coad war zu Beginn zuversichtlich: «Starmer versprach, die Politik Corbyns fortzusetzen. Er wollte die Ärmsten stärker unterstützen und die Reichsten stärker besteuern – es war ein gutes Programm», sagt sie. «Aber dann brach er ein Versprechen nach dem anderen. Heute weiss ich nicht mehr, wofür die Labour-Partei steht.»

Sie selbst habe immer dieselbe Politik gehabt. «Ich bin eine lebenslange Sozialistin», sagt sie. «Vielmehr ist es die Partei, die sich verändert hat.» In den vergangenen Monaten habe es zahlreiche Momente gegeben, in denen sie sich gefragt habe, ob sie noch in dieser Organisation bleiben wolle. Sie nennt Beispiele. Seit dem vergangenen Sommer ist eine bemerkenswerte Streikwelle im Gang, aber die Parteiführung hält sich demonstrativ in sicherer Distanz zu den Gewerkschaften. «Wenn wir streikende Arbeiter nicht mehr unterstützen, wofür ist dann die Labour-Partei da?», fragt Dent Coad.

Auf die drängenden Probleme habe Starmers Labour keine Antwort. «Wir hatten hier in Kensington und Chelsea in den vergangenen Monaten hungernde Leute – man stelle sich das mal vor! Unseren Essensausgaben sind die Vorräte ausgegangen. Was will Labour dagegen tun? Wir wissen es nicht.»

Verbotene Themen

Schwierig fand sie auch das Redeverbot, das von ganz oben verfügt worden ist: «Auf einmal haben wir eine lange Liste von Themen, über die wir in unserem lokalen Parteiverband nicht mehr diskutieren dürfen. Zum Beispiel, ob Grossbritannien die Monarchie abschaffen sollte.» Darüber hätten sie und ihre Kolleg:innen bislang jedes Jahr eine Debatte geführt – und die Abstimmung endete immer mit einer grossen Mehrheit für die britische Republik. Auch darf sich der Parteiverband nicht mehr mit Friedenskampagnen wie «Stop the War» solidarisch zeigen.

Genauso undemokratisch sei die Entscheidung gewesen, Dent Coad in den nächsten Wahlen nicht mehr als Labour-Kandidatin für Kensington antreten zu lassen. Das Führungsgremium der Partei habe sie im Herbst zu einem Interview eingeladen, ihr jede Menge kritische Fragen gestellt und sie im Anschluss von der Liste gestrichen. «Sie dachten wohl, dass ich gewinnen könnte, aber sie wollten keine Sozialistin in der Fraktion», sagt sie.

Dent Coads Parteiaustritt hat in den britischen Medien für eine gewisse Aufmerksamkeit gesorgt, aber sie ist bei weitem nicht die einzige Linke, die Labour desillusioniert den Rücken kehrt. Im vergangenen August zeigten interne Daten, dass die Partei allein im Jahr 2021 über 90 000 Mitglieder verloren hatte.

Lichtblicke sieht Dent Coad jedoch ausserhalb der Parteipolitik: «Es ist viel im Gang. Ich war in den vergangenen Monaten an unzähligen Kundgebungen, Konferenzen, Bildungsevents. Wir debattierten Strategien, wie es für die Linke weitergehen soll.» Sie sehe, wie neue Allianzen geschlossen würden, zum Beispiel zwischen der Friedensbewegung und den Gewerkschaften. Überhaupt: «Die Gewerkschaften haben in den vergangenen Monaten ausgezeichnete Arbeit geleistet.» Eine ganze Generation von Ärztinnen und Krankenpflegern sei durch die Streiks – und die unnachgiebige Haltung der Regierung – politisiert worden. «Es gibt viele Orte, an denen ich mich derzeit willkommen fühle. Aber nicht in der Labour-Partei.»