«Mein Ehrgeiz: Kein Wort zu viel» Eleonore Frey schaut zurück auf ihr Leben und ihr neues Buch. Und erzählt, warum beim Schreiben das Internet für sie keine Rolle spielt.

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Portraitfoto von Eleonore Frey
Eleonore Frey Foto: Ursula Häne

WOZ: Frau Frey, in Ihrem Buch «Cristina», aber auch in vielen früheren Texten erzählen Sie auf Augenhöhe mit einem Kind. Ist Kindheit ein Faszinosum für Sie?

Eleonore Frey: Das Wort «Faszinosum» würde ich nicht benutzen. Aber der kindliche Blick war für mich immer zentral. Ich habe einen behinderten Sohn, deshalb musste ich mich besonders intensiv mit gewissen Aspekten des Kindseins befassen. Etwa als es darum ging, ihm das Reden beizubringen. Das spielt in meine Erzählungen mit hinein. Aber ich hatte auch immer gern Märchen, habe Kinderbücher illustriert, für mich und meinen Sohn. Das war vielleicht auch ein Ausweg aus dem universitären Leben, in dem ich aufgewachsen bin. Das lag mir nicht so.

Und doch haben Sie später auch eine Unikarriere gemacht.

Karriere würde ich es nicht nennen. Ich war Assistenzprofessorin in den USA. Dort ging das gut, es war auch mit den Studenten sehr locker und angenehm. In Zürich habe ich mich habilitiert, habe es dann aber nur zur Titularprofessorin gebracht. Das ist nichts Besonderes: Man kriegt kaum Geld, darf aber Examen abnehmen.

Warum haben Sie trotzdem diesen Weg eingeschlagen?

Einfach deshalb, weil ich mit meinem behinderten Kind sonst nicht viel machen konnte. Ich hatte auch gute Studentinnen und Studenten, die mich zum Teil bis heute besuchen kommen. Das war also eine gute Lösung.

Um auf Ihr Buch zurückzukommen: Sie beschreiben das Leben von Cristina, die als sehr junge Frau ein Kind auf die Welt bringt und dann doch nicht Mutter sein kann, weil ihre Mutter ihr das Kind direkt nach der Geburt wegnimmt. Sie beschreiben diese Erlebnisse, ohne zu psychologisieren.

Das wollte ich nie. Es käme mir nicht in den Sinn, so an die Figuren heranzugehen. Selbstverständlich habe ich einiges gelesen, Sigmund Freud vor allem, aber ich wollte das nicht in mein Schreiben einfliessen lassen. Ich wollte mich von der Fachliteratur abgrenzen.

Illustration von Céline Ducrot: Keramikfliesen mit dem Abbild von zwei Möven
Illustration: Céline Ducrot

Geht es also mehr um Einfühlung?

Es fällt mir nicht ganz leicht, so darüber zu reden, weil ich beim Schreiben nicht über meine Gefühle nachdenke. Ich habe einfach diese Personen, denen passiert etwas, und das führt zum Nächsten. Ich bin beim erzählenden Schreiben nicht Literaturwissenschaftlerin. Überhaupt nicht. Wenn ich nicht in Amerika in die Universität hineingestolpert wäre, die dort wie gesagt ganz anders ist, dann wäre es mir gar nicht in den Sinn gekommen, Professorin zu werden.

«Cristina» ist auch die Geschichte einer Heilung, die Geschichte eines überlebten Traumas, die auch für die Leser:innen befreiend wirkt.

Erzählen als Befreiung: Das kann ich gut nachvollziehen. Es gibt althochdeutsche Sinnsprüche, die das bereits thematisieren. Und es ist ja auch die Idee der Psychoanalyse, dass man sich durch das Reden und Erzählen ein Stück weit von etwas befreien kann.

Sie haben ein auffallend zeitloses Buch geschrieben. Zwar heisst es einmal, es spiele 200 Jahre nach dem grossen Erdbeben von Lissabon, man kann also ausrechnen, dass wir in den 1950er Jahren sein müssen. Trotzdem wirkt es wie aus der Zeit gefallen.

Ja. Das ist mir sogar ziemlich wichtig. Ich möchte möglichst keine Aktualität in die Literatur hineinnehmen. Das Erdbeben ist universal bekannt, das geht. Und es kommen auch die Fähren und die Trams in Lissabon vor. Ich war einmal dort mit meinem Sohn: Dieses Spazieren am Meer, die Überfahrt ans andere Ufer, das habe ich alles gemacht.

Warum ist Ihnen Zeitlosigkeit wichtig?

Weil ich glaube, dass das Erzählenswerte in einem menschlichen Leben nicht ist, dass man – um ein allzu einfaches Beispiel zu nehmen – einen modischen Rock kauft. Das Erzählenswerte ist das, was bei allen als Anlage irgendwie da und auch irgendwie gleich ist, das aber jeder und jede anders auslebt. Verstehen Sie das?

Ich bin nicht sicher. Sie meinen, dass Sie etwas Universelles im Sinn haben, das Schaden nehmen könnte, wenn zu viel Gegenwart hineinspielt?

Es würde womöglich erdrückt werden. Oder anders gesagt: Die Aufmerksamkeit wäre dann vor allem auf diese Gegenwart gerichtet.

Es gibt auch ein Filmplakat, das die Geschichte beiläufig in einer Gegenwart verortet.

Ja. Es soll schon nicht der Eindruck entstehen, das Ganze spiele in der Steinzeit!

«Cristina» ist Ihr 15. Buch. Ihr erster Erzählband von 1989 heisst «Notstand» – ein programmatischer Titel?

Jemand hat mir damals vorgeworfen, ich sei eine reiche Madame und würde so etwas wie einen Notstand gar nicht kennen. So war das aber nicht gemeint. Es ging mir eigentlich um eine wörtliche Bedeutung: dass es schwierig ist, auf den eigenen Füssen zu stehen.

In der Biografie des Schweizerischen Literaturarchivs zu Ihnen steht, dass Sie erst nach dem Tod Ihres Vaters, des berühmten, aber auch berüchtigten Zürcher Germanisten Emil Staiger, angefangen hätten, literarische Texte zu publizieren.

Das stimmt vermutlich. Angefangen zu schreiben habe ich in England. Mein Mann, der Literaturprofessor Hans-Jost Frey, und ich haben in den achtziger Jahren fast ein Jahr lang in England gewohnt. Dort habe ich begonnen, eine Erzählung zu schreiben, was ich meinem Bruder erzählt habe – oder meiner Mutter. Und mein Vater hatte dann wahnsinnig Angst, ich würde private Sachen aus dem Elternhaus aufschreiben. Was wiederum mich ziemlich wütend gemacht hat, weil ich so etwas niemals tun würde.

Das heisst, es besteht schon ein Zusammenhang zwischen der Publikation und seinem Tod?

So genau kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber was ich sicher weiss: Ich hätte ihm meine literarischen Texte niemals gezeigt.

Aus Angst vor seiner Reaktion?

Ich wollte mir einfach nicht dreinreden lassen. Er war als germanistische Autorität ja eher furchteinflössend.

Ende 1966 hat Emil Staiger mit seiner Dankesrede zur Verleihung des städtischen Literaturpreises eine grosse Kontroverse entfacht. Er verdammte die zeitgenössische Literatur ziemlich pauschal, warf den Dichtern vor, sie wühlten im Scheusslichen und Gemeinen. Daraufhin kam er unter Beschuss, namentlich von Max Frisch. Sie waren damals 27 Jahre alt. Können Sie sich erinnern, wie Sie diese Debatte wahrgenommen haben?

Mein Mann und ich waren damals in Amerika, weit weg. Und froh darüber. Wenn mein Vater uns die Rede vorab gezeigt hätte, wären wir sicher nicht begeistert gewesen. Max Frisch kannte ich ja schon als Kind. Er und mein Vater waren lange befreundet gewesen vor dieser Kontroverse. Später habe ich Frisch wieder getroffen. Er hat dann mal zu mir gesagt: «Können wir diesen blöden Streit nicht einmal beilegen?» Und ich habe ihm erzählt, dass mein Sohn einmal gesagt hat: «Gell, Max Frisch ist der, wo Opa immer anfängt, laut zu reden, wenn jemand seinen Namen erwähnt.» Das war ja eigentlich eine feine Geste von Frisch, dass er die Sache hinter sich lassen wollte.

War für Sie nach dem ersten Erzählband gleich klar, dass Sie weiterschreiben würden?

Ja. Ich habe einfach gemerkt, dass es das ist, was ich machen wollte. Ich kann mich noch erinnern, dass mich mal jemand gefragt hat, worüber ich denn schreiben wolle. Und ich habe geantwortet: Über diesen Moment, diesen Dreh, wenn die Geissenblümchen aus dem Boden herauskommen. Nicht über wichtige, besondere Sachen, sondern darüber, wie einzelne scheinbar unscheinbare Sachen ganz besonders sind.

Sie haben stets sehr schmale Bändchen publiziert. Hatten Sie nie Lust, einen dicken Roman zu schreiben?

Nein, ich hätte nicht gewusst, wie. Ich habe nicht gern Geschwätzigkeit. Womit ich jetzt nicht sagen will, dass diejenigen, die lange Romane schreiben, automatisch geschwätzig sind. Aber für mich habe ich es gern möglichst kurz.

Wie müssen wir uns das vorstellen: Sie schreiben ausführlicher und dampfen es dann ein? Oder schreiben Sie von Anfang an so knapp wie möglich?

Es ist eher so: Ich schreibe meistens direkt am Computer und drucke es dann mit einem breiten Rand aus. Danach schreibe ich von Hand in diesen Rand. So wird es etwas länger und noch etwas länger. Aber der Urtext ist jeweils noch kürzer, und manchmal werfe ich später auch wieder etwas raus. Ich habe immer viel an meinen Texten gearbeitet. Es ist mein Ehrgeiz, dass kein Wort zu viel ist.

Wie haben Sie vor der Computerzeit geschrieben?

Als ich anfing, hatte ich eine elektrische Schreibmaschine, die hat mich so genervt, dass ich sie fast aus dem Fenster geworfen hätte. Der Computer war definitiv eine Art Befreiung.

Nach dem Computer kam das Internet. Hat das Ihr Schreiben beeinflusst?

Das Internet? Ich glaube nicht. Das ist nicht so wichtig für mich. Ich schreibe eher über Dinge, die ich konkret erlebt habe. Von Anfang an ging es mir um Sachen, in denen ich selber drin war. Nicht in dem Sinn, dass ich ein uneheliches Kind geboren hätte oder dergleichen. Nicht so. Es geht mir um Szenerien, Erfahrungen. Es gibt auch ein Buch, in dem mein Sohn zentral ist.

Welches Buch ist das?

«Muster aus Hans». Es fängt an mit dem Satz: «Eine Tür, so breit wie Hans lang ist.» Es ist sehr persönlich, deshalb musste ich meinen Sohn fragen, ob ich es publizieren dürfe. Er hat gesagt: «Ja gern, ich möchte, dass die Leute wissen, was ein Autist ist.» Früher war es ja so, dass man immer den Müttern die Schuld für die autistischen Kinder gab, besonders den akademischen Müttern. Da habe ich aufs Dach gekriegt. Er musste dann mal in der Schule einen Vortrag über seine Erkrankung halten, und der erste Satz seines Vortrags war: «Meine Mutter ist nicht schuld.»

Eine böswillige Vorstellung, dass das die Schuld der Mutter sein soll …

Der Arzt in den USA, der Patrick zuerst untersucht hat, hat mir gesagt, ich solle nichts über Autismus lesen. Als ich wissen wollte, warum, sagte er: «Bezähmen Sie bitte Ihre Neugierde.» Denn er wusste, dass ich das Schuldproblem über den Kopf gestülpt bekäme. Er wollte mich schützen. In der Schweiz hat dann der Kinderneurologe bei der Überweisung an den Kinderarzt eine Notiz geschrieben: Das Kind sei eigentlich normal, aber es wundere ihn nicht bei dieser eiskalten akademischen Mutter, dass es ein bisschen «gschpässig» sei. Fürs Schreiben war Patrick sehr wichtig. Er hat anders zu sprechen gelernt als andere Kinder. Das führte dazu, dass ich eine gesteigerte Aufmerksamkeit für die Sprache hatte.

Es fällt auf, dass sich in Ihren Texten keine Erzählstimme, geschweige denn die Autorin in den Vordergrund drängt. Alles ist sehr zurückgenommen zugunsten der Sprache.

Ich fand halt immer: Es geht ja nicht um mich als Person. Es geht einzig um das Sprachbewusstsein. Dass man weiss, dass man redet, wenn man redet. Wenn man erzählt, ist man sowieso jemand anderer als sonst.

Ein wesentliches Geheimnis

Eleonore Frey schreibt trügerisch schlichte Sätze, die zu einer dichten Gegenwelt zusammenwachsen. Ihre Erzählung «Cristina» transportiert uns ins Lissabon der fünfziger Jahre. Vor allem aber versetzt sie uns in die Lage einer jungen Frau, die gezwungen wird, ihr Kind gleich nach der Geburt wegzugeben. Das katholische Umfeld, vor allem die Mutter, verhält sich rigide. Aber es gibt auch Spielräume «dort im Abseits», wo sie ihr Kind zur Welt bringt. Später besucht sie die Hebammenschule, sucht den verlorenen Sohn, findet irgendwann einen Frieden. Am Ende bleibt ein Geheimnis, das die Geschichte überdauert.

Eleonore Frey (83) arbeitete als Literaturwissenschaftlerin in den USA, später in Zürich. Ihr erster Erzählband, «Notstand», erschien 1989.

Eleonore Frey: «Cristina». Erzählung. Engeler Verlag. Schupfart 2022. 166 Seiten. 20 Franken.

Die Autorin liest an den Solothurner Literaturtagen am Samstag, 20. Mai 2023, um 13 Uhr.