Wenn alle wegschauen

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«Plötzlich hat er ein Gewehr in der Hand»: Schon der erste Satz dieses schmalen Romans ist eine Wucht. «Er», das ist ein brutaler Lastwagenchauffeur in einem Walliser Bergdorf in den siebziger Jahren, der seine Frau und seine beiden Töchter misshandelt – Emma, die ältere, die «Lieblingstochter», auch sexuell.

Erzählt wird von der jüngeren Tochter Jeanne, wechselnd aus der Perspektive des von panischer Angst gepeinigten Mädchens und von der auf Dauer traumatisierten, zornigen jungen Erwachsenen. Der nicht autobiografische, aber laut der Autorin Sarah Jollien-Fardel aus «genauer Kenntnis des Milieus und der Zeit» geschriebene Text geht in seiner poetischen Härte unter die Haut.

Letzten Herbst erschienen, schlug der Erstling der als Literaturkritikerin tätigen 51-Jährigen im französischen Sprachraum sofort ein, gewann wichtige Preise und liegt jetzt in einer deutschen Übersetzung vor. Selten ist häusliche Gewalt derart bedrängend, sind Roheit und Sadismus des Täters, Ohnmacht und Verzweiflung der ihm ausgelieferten Frauen und Kinder literarisch so beklemmend gestaltet worden. Jollien-Fardel erzählt keine Walliser Geschichte, sondern einen universellen Stoff.

Jeanne kann sich als Kind zuweilen noch wegducken und den Gewaltexzessen «bloss» voller Horror zusehen. Ihr Urvertrauen verliert sie, als sie, blutig geschlagen, dem Dorfarzt gegenüber den Vater als Täter benennt, der Arzt indes feige wegschaut – wie alle im Dorf. «Frau sein im Wallis bedeutete in den Siebzigern, eine Form von Gewalt zu erleiden», so die Autorin in einem Interview.

In einer der entsetzlichsten Szenen zwingt der Vater die kleine Emma zuzuschauen, wie er ihre geliebte Katze ersäuft – einzig weil das Kind nach einer Beerdigung Mitgefühl für die Hinterbliebenen geäussert hatte.

«Ich habe mich nie an die Gewalt gewöhnt», schreibt die erwachsene Jeanne. Dank guter Schulleistungen rettet sie sich ins Internat in Sion und später in ein Studium in Lausanne, ohne vom Erlebten und ihrer über die Jahre gewachsenen Wut darüber loszukommen. Als sich ihre ungewollt schwanger gewordene Schwester das Leben nimmt, explodiert Jeanne am Grab und klagt den Vater frontal an: «Du hast sie vergewaltigt, du hast sie umgebracht.» Doch auch jetzt geschieht nichts.

Jeanne bricht schliesslich alle Brücken ab und lebt in Lausanne. Als die Mutter bei einem Autounfall stirbt, verstärken sich Schuldgefühle und Selbsthass. Dem todkranken Vater spuckt sie auf dem Sterbebett ins Gesicht. Schonungslos schildert die Autorin Jeannes Weg bis zum düsteren Ende. Eine schwer erträgliche Lektüre – und unvergesslich.

Die Autorin liest an den Solothurner Literaturtagen am Samstag, 20. Mai 2023, um 17 Uhr.

Buchcover von «Lieblingstochter»

Sarah Jollien-Fardel: «Lieblingstochter». Roman. Aus dem Französischen von Theresa Benkert. Aufbau Verlag. Berlin 2023. 221 Seiten. 34 Franken.