Nur die Welt retten

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Statt einer Megafeier brachte ihr die Jahrtausendwende Daseinsangst: «Also mal zämägfasst, was so passiert isch, in Lidijas aufregendem Leben. 1. Ich han es Natel. 2. Ich han nöd dörfe ane Silvesterparty. 3. Ich han Existenzangscht», schreibt Lidija Burčak am 1. Januar 2000 in ihr Tagebuch. Sechzehn Jahre alt ist sie da, hat den ersten Alkoholrausch und den ersten Zungenkuss hinter sich: «Es isch es geils Gfühl gsi, ich han fascht nüme chöne stah.» Und zur aus Vernunft gewählten Kauffrauausbildung, notiert sie: «Mis Herz kackts aber a.»

Es ist die Zeit, in der Lidija ihren «Vätsch» und ihre «Mütsch» auch mal «verdammti Penner» nennt, weil sie sie nicht ziehen lassen, weder nach Zürich ins «Palais» noch ins «Salzhaus» in «Winti», der Stadt, in der sie aufwächst. Sowieso will sie viel mehr: am liebsten nach Paris, London, New York. Aber «Züri langed für de Afang».

Die ersten Auszüge aus achtzehn Jahren Tagebuch erzählen vom Drang, sich «en verdammte Platz idärä Scheisswält» zu erkämpfen. Aber vor allem vom Dilemma, nicht zu wissen, wie dieser Platz aussehen würde. Burčak hat mit «Nöd us Zucker» Texte veröffentlicht, die Erinnerungen wecken, die die meisten gerne in den Tiefen des Unterbewusstseins belassen. Erinnerungen daran, wie unangenehm das emotionale Pingpong zwischen Wut, Selbstzweifeln, Sinnfragen und Selbstüberschätzung ist, dem wir in unserer Jugend ausgesetzt sind.

Erst will Burčak Schauspielerin oder Tänzerin werden, dann Spitalclownin. «Ich wett doch d Wält rettä. Und dänn hani sonen blöde neue Job, woni Kent-Zigis ad d Lüüt verchaufe», wird sie später resigniert feststellen. Mit den Einträgen bewegen wir uns mit Burčak vorwärts, erleben, wie sie eines ihrer sieben Praktika zu einem Privatradio führt, für das sie Sylvester Stallone auf dem roten Teppich das Mikrofon entgegenstrecken darf. Und dann, am Tag, als Michael Jackson stirbt, trotzdem ins «verfiggte Toggeburg» muss, um über einen Hausbrand zu berichten. «Tamminomal!».

«Nöd us Zucker» ist viel mehr als eine unterhaltsame Coming-of-Age-Geschichte und das Psychogramm einer heranwachsenden Frau, die irgendwann zur freischaffenden Autorin und Filmemacherin wird. Denn schon früh gelingt es Burčak, mit ihrem Humor menschliche Phänomene auf den Punkt zu bringen: «Dä Mensch isch halt nöd eso, dass er d Akzeptanz im Life-Package mitübercho hät», stellt sie als 22-Jährige fest. Als Kind von Eltern, die aus Jugoslawien einwanderten, spürt sie das umso mehr: Sie ist eine Burčak, keine «Burkhard, Burger oder Burtscher», erfährt Alltagsrassismus und fühlt sich auch mal einem Liebhaber näher, weil sie das «Jugo-Ding» verbindet.

«Nöd us Zucker» ist eine selbstermächtigende Absage an neoliberale «One way to do it»-Erzählungen und zeigt auf, wie widersprüchlich die Themen sind, die Alltag und Identität eines Menschen prägen. Dass es viele Wege gibt, um einen Platz «idärä Scheisswält» zu ergattern. Und auch, wie köstlich sich Rückschläge im Nachhinein lesen lassen.

Die Autorin liest und diskutiert an den Solothurner Literaturtagen am Freitag, 19. Mai 2023, um 18 Uhr und am Sonntag, 21. Mai 2023, um 13.30 Uhr.

Buchcover von «Nöd us Zucker»

Lidija Burčak: «Nöd us Zucker». Tagebuchtexte. Der gesunde Menschenversand. Luzern 2022. 196 Seiten. 25 Franken.