Kost und Logis: Border Collies unter dem Tisch

Nr. 21 –

Bettina Dyttrich findet das alternative Frankreich

Ich steige auf einen Hügel und sehe nur noch Wald. Knorrige Eichen, Felsen, weit hinten in den Wolken verschwommene Schneeberge. Ich würde gern bis zum Horizont gehen. Sobald die Stadt hinter dem Hügel verschwindet, glaube ich nicht mehr, dass es sie gibt.

Dabei gefällt sie mir: Digne-les-Bains, Departement Alpes-de-Haute-Provence. Eine dieser französischen Provinzstädte, in denen ich bleiben könnte. Gross genug für zwei Museen, einen chaotischen Bioladen, eine indische Beiz, eine bretonische Crêperie und eine richtig gute Buchhandlung mit sorgfältig ausgewählter Literatur, Comics, Kinderbüchern, viel Ökologie. Bücher über Aufstand und Alternativen sind aus aktuellem Anlass prominent ausgestellt. Und am Samstag ist Markt, grosses Gedränge, die Biolandwirt:innen aus der Umgebung verkaufen Dutzende von Käsesorten, selbstgemachte Seifen, Süssigkeiten, Brot. Bei Früchten und Gemüse dominieren hingegen die grossen konventionellen Betriebe aus dem nahen Durance-Tal.

Bio ist in Frankreich immer noch eine Nische, viel mehr als in der Schweiz. Aber von der Aufbruchstimmung dieser Szene könnten wir noch etwas lernen. Viele Biobäuer:innen experimentieren mit alternativen Anbauformen wie Agroforst und Permakultur, organisieren sich in Kooperativen mit Konsument:innen oder der Gastronomie und bringen die Verarbeitung auf die Höfe zurück – «paysan-boulanger» (Bauer-Bäcker) ist ein anerkannter Beruf.

Viele linksalternative Französ:innen sind aufs Land gezogen. Gärtnerinnen und Hirten, aber auch Handwerkerinnen, Beizer, Kulturschaffende. Sie übernehmen oder eröffnen Läden, Cafés, Kleintheater, bringen Infrastruktur in die Dörfer zurück. Im Trièves zum Beispiel, einem Hügelland zwischen den Bergen südlich von Grenoble. In der Dorfbeiz regionales Gemüse auf Gourmetniveau, beim Dorfbrunnen hängen Inserate von Yogalehrerinnen, Biogartenkursen und Folkpartys. Menschen mit zerzausten Haaren sitzen beim Apéro, Border Collies unter dem Tisch. Es ist so idyllisch, dass es schon fast eng werden könnte.

Inzwischen gibt es mehrere Zeitschriften für die Alternativen auf dem Land – schlau, informativ, politisch, weit weg vom «Landliebe»-Kitsch. «Kaïzen» bringt gerade ein Dossier über Landwirtinnen. «Regain» zeigt, wie sich für fünfzehn Euro ein Gourmetmenü kochen lässt, stellt den neuen Weitwanderweg in der Agglo von Marseille vor oder porträtiert ein Männerpaar, das biologische Schnittblumen anbaut. Und die Schriftstellerin Louise Chennevière schreibt einen behutsamen, zweifelnden Text über ihren eigenen Weg aufs Land und die Netze, die sie dort knüpft, über eine Autostopperin, die sie am Strassenrand aufliest und plötzlich wiedererkennt, weil sie in der Stadt in denselben Club gingen.

Diese Szene zieht mich an, dieses Land, das eine ganz andere Weite hat als die Schweiz. Aber ich weiss: Ohne Auto wäre ich hier verloren.

Bettina Dyttrich ist WOZ-Redaktorin.