Literatur: Im Strom der Funken

Nr. 22 –

Eben achtzig Jahre alt geworden, hat sich der Schweizer Schriftsteller Christian Haller gleich doppelt beschenkt: mit einer meisterlichen Novelle und einem erhellenden Essay zu Fragen moderner Physik.

Portraitfoto von Christian Haller
Überfliegt im Eiltempo die Jahrhunderte: Christian Haller. Foto: Anne Gabriel-Jürgens

An einem späten Abend beobachtet ein junger Mann im Kopenhagen des Jahres 1925, wie ein anderer Fussgänger im Licht einer Strassenlaterne erscheint und nach wenigen Schritten im Dunkel verschwindet, ehe er im nächsten Lichtkreis erneut auftaucht. Gewissheit darüber, ob der Unbekannte erneut im Licht erscheinen wird, gibt es keine, und hätte er stets gerade dann hingeblickt, wenn sich der andere im Dunkel zwischen den Lichtkreisen befand, dann wäre der Beobachtete für den Beobachter inexistent geblieben. Von diesem Phänomen aus entwickelt der Autor und ausgebildete Naturwissenschaftler Christian Haller seine Novelle «Sich lichtende Nebel», eine philosophische Erzählung zur Entwicklung der Quantenmechanik durch den Physiker Werner Heisenberg.

Um diesen handelt es sich nämlich bei dem nächtlichen Beobachter, auch wenn er im Buch nie beim Namen genannt wird. Der 24-jährige Heisenberg weilt für Forschungsdebatten beim schon berühmten Atomphysiker Niels Bohr. Wegen hartnäckigen Heuschnupfens zieht er sich – so wird es überliefert – erschöpft auf die Insel Helgoland zurück und schafft dort den theoretischen Durchbruch zur sogenannten Quantenmechanik. Diese revolutioniert die damalige Physik: Sie bringt den Abschied von klar umrissenen Definitionen von Materie und beschreibt zugleich das Verschwinden und das Wiederauftauchen der kleinsten Teilchen neu als energetische Zustände.

Diesen auch für praktische Anwendungen bis hin zur Digitaltechnik epochalen Forschungsfortschritt setzt Haller knapp und gekonnt in Szene. Freilich gilt sein Interesse ebenso sehr dem Gegenpol des Physikers: jenem im Lichtschein beobachteten Unbekannten, dem der Autor ein fiktives Leben und einen Namen gibt und der im Wechsel mit Heisenberg in je achtzehn Kapiteln zur Sprache kommt.

Pfeil der Erkenntnis

Helmstedt, wie ihn Haller nennt, ahnt nichts von Heisenbergs Erkenntnispfeil. Er ist pensionierter Historiker, seit kurzem verwitwet und von Vereinsamung bedroht. An jenem Abend hat er sich, nicht zum ersten Mal, mit seinem Freund, einem positivistischen Rationalisten, über Wahrheit und Wirklichkeit gestritten. Dann erlebt er mehrfach halluzinatorische Visionen, wobei er «Tisch, Boden, Wände, aber auch die Äste und Blätter» als «vollständig durchsichtig» wahrnimmt, als «eine Art Glutfunken», als «bewegte Zustände von Energie, von unglaublicher, leuchtender Schönheit». Sich selbst erfährt er dabei als «Teil in dem Geschehen», im «Strom von Funkengebilden», die «in einem dauernden Austausch standen».

Verunsichert und euphorisiert zugleich, fragt er eine Augenärztin: «Wie kann man erklären, dass man etwas sieht, was man eigentlich nicht sehen kann?» Doch die Frau winkt ab: «Das ist nicht möglich. Sie können zwar das Gefühl haben, in einen Gegenstand hineinzusehen, doch dabei wirken aus Wissen angeregte Vorstellungen. Diese werden quasi durch ihren Blick mitgesehen, so dass Sie glauben, etwas zu sehen, was aber Einbildung, Imagination ist.»

Wie Heisenberg für die Teilchenphysik akzeptieren muss, dass manches nicht erklärbar bleibt und dass als gesichert nur gelten kann, was beobachtet werden kann, so überlässt sich Helmstedt der Wahrheit seiner Erlebnisse mit der Welt. Diese offenbart sich ihm als «Meer aus Glutteilchen», mit denen er selbst «in dauernder Wechselwirkung» steht. Obwohl er nichts davon beweisen oder erklären kann, zieht der alte Historiker aus der Wahrheit seiner (ästhetischen?, mystischen?) Erfahrung am Ende vielleicht sogar Trost – zumindest aber die Gewissheit, «in einem äusserst eingeschränkten Wahrnehmungsraum zu leben».

Wie der Blitz

Die kapitale Herausforderung, das Nicht-zu-Sehende und Nicht-Sagbare in Worte zu kleiden, meistert Haller mit Bravour. In seiner wunderbar einfachen, leuchtenden Sprache geleitet er die Lesenden mit Leichtigkeit und schierer Schönheit durch den schmalen Text. Diese ästhetische Erfahrung macht das Verständnis dessen, was schwer oder gar nicht zu verstehen ist, vielleicht eher möglich als alle rechnerische Beweisführung (die auch Heisenberg nicht restlos gelingen sollte). «Sich lichtende Nebel» ist ein grossartiges Stück Literatur und wohl Hallers stärkstes Buch seit seinem Roman «Die verschluckte Musik» (2001).

Quasi komplementär zu dieser klar fokussierten und hochpoetischen Novelle ist der Essay, den Christian Haller zuvor unter dem Titel «Blitzgewitter» vorgelegt hatte. In dieser «kurzen Geschichte des Lichts, in das wir uns stellen», überfliegt der Autor im Eiltempo die Jahrhunderte: In sechs Kapiteln und 133 Absätzen beschreibt, erörtert, interpretiert er die Entwicklung des wissenschaftlichen Verständnisses von Licht und Bildproduktion – physikalisch, philosophisch, soziologisch, politisch. «Blitzgewitter» ist ein wahrlich wagemutiger Versuch auf kaum hundert Seiten, bleibt aber trotz hoher Komplexität und unvermeidlicher Verkürzungen bestens lesbar, denn auch für dieses Vorhaben findet Haller eine geschmeidige, glasklare Sprache. Zwei grundverschiedene Bücher, die doch vielfach korrespondieren – gleichermassen herausragend.

Buchcover von «Sich lichtende Nebel»
Christian Haller: «Sich lichtende Nebel». Novelle. Luchterhand. München 2023. 128 Seiten. 33.90 Franken.
Buchcover von «Blitzgewitter. Eine kurze Geschichte des Lichts, in das wir uns stellen»
Christian Haller: «Blitzgewitter. Eine kurze Geschichte des Lichts, in das wir uns stellen». Fröhliche Wissenschaft, Band 214. Matthes & Seitz. Berlin 2022. 108 Seiten. 19.90 Franken.