Energiepolitik: «So was hätte ich noch vor einem Jahr für unmöglich gehalten»

Nr. 22 –

Die EU und die Schweiz wollen die Produktion von Energie aus erneuerbaren Quellen schnell ausbauen. Damit verletzten sie die Alpenkonvention, sagt Kaspar Schuler von der Alpenschutzorganisation Cipra International.

WOZ: Kaspar Schuler, Sie sind Geschäftsführer der Alpenschutzorganisation Cipra International. Die Cipra schreibt, die Energiewende sei nötig, bedrohe aber in der jetzigen Ausgestaltung die nachhaltige Entwicklung in den Alpen, weil das Umweltrecht dereguliert werde. Was macht Ihnen Sorgen?

Kaspar Schuler: Wir sind in einem brutalen Umbruchprozess. Der Naturschutz wird ausgehebelt, und zwar im ganzen Alpenraum. Die EU hat im Dezember eine Notverordnung veröffentlicht, die den Ausbau der Erneuerbaren beschleunigt. Sie geht ähnlich vor wie die Schweiz mit ihrem Mantelerlass zum Energiegesetz. Da sich die Schweiz nicht ins EU-Recht einbetten muss, agiert sie zurzeit überhasteter als die EU.

Was kritisieren Sie konkret?

Was National- und Ständerat im Gewässer- und Naturschutz deregulieren. 2021 hat sich Bundesrätin Simonetta Sommaruga mit den Kantonen, den Stromkonzernen und einigen Umweltorganisationen am «Runden Tisch Wasserkraft» auf 15 Wasserkraftprojekte geeinigt, die zuerst geprüft werden sollten. Bedingung der Umweltseite und Teil der Abmachung war, dass diese Projekte sauber durch die Bewilligungsverfahren laufen. Dieses Versprechen wurde gebrochen: Man hat sie raumplanungsrechtswidrig in den Mantelerlass geschrieben, sie sollen bevorzugt bewilligt werden. Durch die Lobbyarbeit des Bündner FDP-Ständerats Martin Schmid, eines ehemaligen Verwaltungsrats der Firma Repower, kommt noch ein 16. dazu: deren Projekt «Chlus» im Prättigau. Das ist nur der erste Punkt …

Portraitfoto von Kaspar Schuler, Alpenschützer
Kaspar Schuler, Alpenschützer Foto: Darko Todorovic

Welche gibt es noch?

Schmid und die Umweltkommission des Ständerats wollen auch durchsetzen, dass Restwasserstrecken durch Biotope von nationaler Bedeutung verlaufen dürfen. Das passt wie die Faust aufs Auge zu einem weiteren Bündner Projekt, der Ableitung des wilden Flusses Glenner im Lugnez hinter die Zervreila-Staumauer, die dafür erhöht werden soll. Das würde dazu führen, dass die geschützten Auenwälder des Glenners viel zu wenig Wasser erhielten – tödlich für eine Aue.

Weiter entstehen ganz oben, unter den Gipfeln, neue Schwemmebenen, weil die Gletscher schmelzen. Viele Alpenpflanzen müssen dorthin ausweichen, weil es wärmer wird. Wenn sie so wenigstens ein paar neue Gebiete bekommen, ist das für die Biodiversität ein Geschenk. Aber das Parlament will auch diese Gebiete für die Energieproduktion freigeben, obwohl einige schon heute die Schutzkriterien erfüllen. Auch hochproblematisch: Bei Kraftwerksbauten in Landschaften von nationaler Bedeutung sollen keine Ersatz- oder Ausgleichsmassnahmen mehr nötig sein.

Was bedeutet das?

Wer dort heute ein Gewässer durch einen Kraftwerksbau beeinträchtigt, muss ökologischen Ersatz schaffen. Zum Beispiel indem man dem Fluss mehr Raum lässt. Da gibt es tolle Beispiele, etwa an der Aare. Auch Leute, die bürgerlich wählen, freuen sich, wenn sie nicht an einem öden Kanal wandern müssen, sondern an und auf renaturierten Flüssen picknicken oder Kajak fahren können.

Am Erscheinungstag dieser WOZ berät der Ständerat wieder über den Mantelerlass. Er kann die Vorlage noch verbessern.

Das hoffen wir! Bevor der Mantelerlass in der Herbstsession im Nationalrat finalisiert wird, sollte das Bundesamt für Justiz umfassend prüfen, ob er tatsächlich verfassungs- und völkerrechtskonform ist. Er widerspricht heute in vielen Punkten Raumplanungsrecht und Verfassungsartikeln zum Naturschutz. Mühselige Gerichtsfälle sind absehbar – umso mehr, als die Schweiz kein Verfassungsgericht hat.

Sie waren in jungen Jahren Alphirt im Val Madris, das von einem Wasserkraftprojekt bedroht war. Hätten Sie erwartet, dass Sie sich Jahrzehnte später wieder für den Schutz solcher Bergtäler engagieren müssen?

Was seit August 2022 im Parlament passiert, hätte ich noch vor einem Jahr für unmöglich gehalten. Aber nicht wir haben diese Landschaften gerettet, sondern letztlich der internationale Strommarkt. In den Achtzigern geplante Pumpspeicherkraftwerke waren in den neunziger Jahren nicht mehr lukrativ. Darum wähnen sich viele Umweltschützer:innen bis heute auf der sicheren Seite. Doch jetzt kommt eine Subventionswelle, in der EU wie in der Schweiz. Hierzulande sollen bis zu sechzig Prozent der nicht amortisierbaren Investitionen in Wasserkraftwerke subventioniert werden. Jetzt lohnt es sich wieder zu bauen!

Also wird gebaut?

Und wie! Wobei etwas Übergeordnetes vergessen geht: 2020 haben sich die Alpenländer dazu bekannt, solche Wasserfragen in Zukunft multilateral zu besprechen. Wir dürfen gar nicht mehr allein entscheiden, ob wir für Winterstrom und Schneekanonen das Wasser zurückbehalten. Europa wird heisser und trockener. Die Schweiz und Österreich werden zumindest mit Frankreich, Italien, Deutschland und Slowenien aushandeln müssen, wie viel Wasser ihnen oben zusteht und wie viel jene weiter unten benötigen. Letztes Jahr hatten das Piemont und die Lombardei bereits einen Konflikt mit dem Tessin über den Pegel des Lago Maggiore.

Es geht um Bewässerung, Tourismus, Stromproduktion, Grund- und Trinkwasser. Harte Konflikte sind absehbar, ganz ähnlich wie im Nahen Osten: Am Oberlauf der Flüsse hat die Türkei Staudämme gebaut, Syrien und der Irak müssen nehmen, was noch runterkommt. Das darf hier nicht passieren. Durch die Kombination von Energiekrise, der verspäteten und jetzt überstürzt geplanten Energiewende und der Klimakrise bekommt das Wasser eine unheimliche Brisanz.

Wie machen Sie weiter?

Die Cipra hat Beispiele zweifelhafter Energieprojekte aus allen Alpenländern zusammengetragen und dem Beschwerdegremium der Alpenkonvention vorgelegt. Wir bezweifeln, dass diese brachiale Energiepolitik mit diesem internationalen Vertrag zum Schutz der Alpen konform ist. Es ist die Frage zu klären: Was gilt übergeordnet, EU-Recht oder die Alpenkonvention als Teil des Völkerrechts?

Betrifft das auch die Schweiz?

Die Schweiz, vertreten durch das Aussendepartement, hat zugesagt, die Frage auch in Bezug auf die eigene Energiepolitik zu beantworten. Spätestens für die Herbstsession sollte die Antwort vorliegen. Niemand von uns hat übrigens ein Interesse, die Energiewende zu stoppen. Aber sie soll unter Einbezug der Biodiversitätskrise umgesetzt werden, mit dem grösstmöglichen Schutz der unwiederbringlichen Naturwerte.

Was stimmen Sie am 18. Juni beim Klimaschutzgesetz?

Ja! Erst mit dieser Rahmensetzung können die notwendigen Massnahmen zur CO₂-Reduktion zusammengefügt und für die Zielerreichung 2050 wirksam werden.