Türkei: Wo die Regierung Gewalt benennt

In der höchsten türkischen Fussballliga ist es am Montagabend zum Eklat gekommen: Nach dem Schlusspfiff der hitzigen Partie zwischen Ankaragücü und Rizespor wurde Schiedsrichter Halil Umut Meler zunächst von Spielern und Funktionären des Heimvereins bedrängt und dann mit einem Faustschlag ins Gesicht niedergestreckt. Der Schlag war Chefsache: Täter war Ankaragücü-Vereinspräsident Faruk Koca.

Der Türkische Fussballverband reagierte umgehend und kündigte Sanktionen an: «In Abstimmung mit unserem Staat wurden gegen die Verantwortlichen dieses unmenschlichen Angriffs Strafverfahren eingeleitet.» Auch die Reaktion des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan liess nicht lange auf sich warten: «Wir werden niemals zulassen, dass Gewalt im türkischen Sport stattfindet.» Als im März dieses Jahres aber das Kader des kurdischen Vereins Amedspor in der westtürkischen Stadt Bursa angegangen, bedroht und gar mit einem Messer beworfen worden war, waren die Distanzierungen vergleichsweise kleinlaut.

Das Vorgehen der Regierung gegen Gewalt innerhalb der türkischen Gesellschaft ist indes ohnehin sehr selektiv. Von der Gewalt, die sie selbst anwendet, mal ganz zu schweigen. 

Am Sonntag hatte die Föderation der Frauenverbände der Türkei Zahlen zu den Femiziden im Land veröffentlicht. Allein im November des laufenden Jahres wurden in der Türkei 49 Frauen von Männern ermordet. Die Zahl der ermordeten Frauen steigt im laufenden Jahr somit auf 399. In den allermeisten Fällen wurden diese Frauen von ihren Partnern, Expartnern oder männlichen Familienangehörigen getötet. Ein noch düstereres Bild zeichnen die Zahlen des Familienministeriums: Gemäss den Erfahrungswerten der letzten zehn Jahre melden sich in der Türkei pro Stunde fünfzehn Frauen bei zuständigen Schutzinstitutionen, weil sie häuslicher Gewalt ausgesetzt sind. Die Zahlen steigen stark an, die Dunkelziffer muss hoch sein.

Vor dem Hintergrund dieser Fakten wirkt die Reaktion der Regierung auf den Vorfall nach dem gestrigen Fussballspiel zynisch: Während dort Sanktionen angekündigt werden, begegnet sie den alarmierenden Femizidzahlen mit Gleichgültigkeit. Diese Haltung hat System: Die Türkei hat 2021 als einziges Land die Istanbul-Konvention aufgekündigt, ein europäisches Abkommen, das Gewalt gegen Frauen verhüten und bekämpfen will.