Das beschädigte Leben
«Wie geht es dir?», fragen die freundlichen Menschen meiner Vermonter Community jetzt auffallend oft. Meist fügen sie hastig hinzu: «Ich meine, dir persönlich.» Tja, was soll man dazu sagen? Mann, Kinder und Kindeskinder sind alle gesund. Die Hühner legen prächtig. Der Frühling wird irgendwann auch zu uns in den Nordosten der USA kommen. Proben und Konzerte halten mich und meine Geige auf Trab.
Das stimmt alles so. Trotzdem tönt meine Antwort ganz falsch. Denn ich persönlich bin auch eine trumpkritische «noncitizen» – die Sorte Nichtbürgerin mit Green Card, die von der neuen Regierung bloss noch vorläufig geduldet wird. Ich bin eine US-Rentnerin, deren Sozialversicherung von Trump-Flüsterer Elon Musk als betrügerisches Ponzi-System abgetan und infrage gestellt wird. Ich bin Mutter erwachsener Kinder, deren Arbeit im Flüchtlings- und Umweltbereich der USA von einem Tag auf den anderen nicht mehr gefragt ist. Ich bin Nonna von einem halben Dutzend Grosskindern, um deren Zukunft mir angst und bange ist. Die älteste Enkelin ist zwei Tage nach Trumps Amtseinsetzung volljährig geworden – welch ein Start ins Erwachsenenleben! Ich musiziere neben einer Orchesterkollegin, die sich ins Ausland verabschiedet, weil sie ihrem nonbinären Nachwuchs die USA nicht mehr zumuten mag. Auf Schritt und Tritt – im Supermarkt, im Restaurant, beim geselligen Zusammensein – begegne ich hier, in Bernie Sanders’ Heimat, Menschen, die von Ausschaffung bedroht sind oder die sich selbst aus dem Maga-Land absetzen wollen.
Beim Kochen habe ich neulich am Radio gehört, wie Biomediziner:innen des weltweit renommierten Nationalen Gesundheitsinstituts der USA (NIH) ihre Berichte nun systematisch nach Wörtern wie «Diversität», «Gender», «Inklusion» und sogar «Frauen» durchforsten, die der Regierung nicht genehm sind. Sie hoffen, mit der Streichung dieser Begriffe überlebenswichtige staatliche Forschungsgelder sichern zu können. Doch die Sprachsäuberung sei nicht so einfach, erklärt eine der Befragten. Wenn die NIH-Wissenschaftler:innen die neuen bürokratischen Richtlinien befolgen, können sie nicht mehr sagen, was Sache ist. Denn: Disparitäten bei der Gesundheitsversorgung sind ein wichtiger Forschungsbereich des NIH. Und diese Ungleichheiten haben erfahrungsgemäss mit den nun «verbotenen» Kategorien wie Ethnie, Gender oder sozialem Status zu tun – so etwa in einer geplanten Studie über häusliche Gewalt während der Schwangerschaft, der soeben die Finanzierung verweigert worden ist. Die leitende Forscherin vermutet, weil «Gleichberechtigung» im Titel steht.
Die (Selbst-)Zensur am NIH ist natürlich nicht der einzige – und vielleicht nicht einmal der dramatischste – Fall von Wirklichkeitsverleugnung im Trumpozän. Im Maga-Reich werden dringliche Probleme wie Klimakrise, bewaffnete Konflikte, Hungersnöte, Migration, Rassismus, Sexismus und die zunehmende soziale Ungleichheit in den USA allenthalben verneint, umgedeutet oder ganz ins Gegenteil verkehrt.
Wem der Zustand dieser schönen neuen Welt schlaflose Nächte bereitet, ist selber schuld. «Die fundamentale Schwäche der westlichen Zivilisation ist Empathie», verkündete der Egomane Musk kürzlich in einem Podcast. Immer mehr US-Konservative werten menschliches Mitgefühl als «toxisch» und schreiben ganze Bücher über «die Sünde der Empathie».
«Wie geht es dir?» Vielleicht sollte ich auf die gut gemeinte, durchaus empathische Frage mit Adorno antworten: In unserer so falschen Gegenwart gibt es kein richtiges, irgendwie isoliertes persönliches Leben. Das hat bekanntlich der deutsche Philosoph im US-Exil der 1940er Jahre so zusammengefasst. Er suchte angesichts der Krisen seiner Zeit nach einem winzigen Kern oder Rest von Ethik und schrieb die «Minima Moralia». Vor seinem Tod 1969 beschäftigte sich Adorno noch mehrmals mit der Möglichkeit und Unmöglichkeit des richtigen Lebens im falschen – und kam zum Schluss: Widerstand sei die eigentliche Substanz der Moral. Ich habe Adornos «Minima Moralia» vor vielen Jahren gelesen. Nun werde ich es wieder tun, allein schon wegen des treffenden Untertitels: «Reflexionen aus dem beschädigten Leben».
An dieser Stelle lesen Sie immer freitags «Fussnoten aus dem Trumpozän» von Lotta Suter. Die Mitbegründerin sowie langjährige Redaktorin und Auslandskorrespondentin der WOZ lebt seit vielen Jahren im US-Bundesstaat Vermont. Von dieser ländlichen Peripherie aus schreibt sie bis Mitte Juli ihre Kolumne, in der sie dem Echo der Politik in Washington lauscht.