Parallelwelten ewiger Unerwachsenheit Fantasy boomt. Eine Analyse ihrer geschlossenen Weltbilder – und ein Hinweis auf subversive Ausbrüche.

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Im Dreieck der fantastischen Popmythologien – Science-Fiction, Horror, Fantasy – hat Letztere nicht den besten Ruf. Das Kindische, das Nerdige und das Reaktionäre scheinen in der Fantasy eine Einheit zu bilden, in der die Zumutungen der Moderne und die Mühen der Aufklärung ebenso abgewehrt werden wie die Unwägbarkeiten von Demokratie und Liberalismus. Die Welten, die da gebaut werden, erscheinen feudalistisch und despotisch, die Helden, die gefeiert werden, archaisch und autokratisch, die Geschichten, die erzählt werden, manichäisch und unterkomplex. Auch was die narrative Kunstfertigkeit angeht, wird Fantasy eher gering geschätzt: Wenn alles möglich gemacht werden kann, mit ein bisschen Zauber hier, ­einer neuen Insel in der Weltenschöpfung dort, und wenn es nie um ein anderes Finale geht als die «letzte Schlacht» und alles bloss endlose Variation der einmal eingeführten Konstellationen ist, dann stellt das erzählerische Fingieren wenig Ansprüche an Logik und Dramaturgie.

Ganz offensichtlich kann man das Genre ideologisch verorten. Science-Fiction lässt sich dem positivistisch-progressiven Teil des Kleinbürgertums zuordnen, Horror dem subversiv-dissidenten und Fantasy dem konservativ-regressiven Teil. Anders formuliert: Wer in den USA die Demokrat:innen wählt, liest Science-Fiction, wer die Republikaner:innen bevorzugt, Fantasy, und wer beiden Seiten gründlich misstraut, Horror. Ganz so einfach ist es natürlich nicht, aber Untersuchungen scheinen da immerhin Dispositionen zu bestätigen. Josh Katz, der in der «New York Times» soziale Trends grafisch veranschaulicht, schuf eine amerikanische Landkarte des TV-Serien-Konsums und belegte dabei eine Vorliebe konservativer Regionen für Fantasyserien. Was eigentlich nicht weiter überraschend ist: Der Rückzug in die nichtmodernen Parallelwelten erfolgt ja nicht zuletzt aufgrund subjektiver und sozialer Wettkämpfe und des Gefühls, in diesen unterlegen zu sein und zu den Abgehängten zu zählen.

Fantasy flieht vor den Anforderungen des Politischen  und ist doch selbst politisch.

Das Genre hat seine Kulturgeschichte. Die Blüte­zeiten der Fantasy sind rasch benannt: die Depressionsjahre in den USA, wo sich die Sehnsucht nach überschaubaren Welten und barbarischen Helden à la Conan herausbildete; die Jahre des Zweiten Weltkriegs in England, als viele bürgerliche Familien aus Furcht vor den deutschen Bombenangriffen die Kinder aus den Städten aufs Land schickten und man diesem Verlust der familiären Geborgenheit und der Erfahrung der Entfremdung mit einer Verzauberung von Landschaft und Architekturen begegnete: Noch in den Abenteuern des Waisenjungen Harry Potter, der in einer definitiv falschen Familie aufwachsen muss, spukt diese Erfahrung einer Generation, die sich mit einem dickens­schen Mythos der Erlösung von kindlichem Elend verbinden mag.

Serienspektakel für die Millenials

Später machte die Auflösung der Hippieträume von ­Love, ­Peace and Happiness in esoterischen Kulten, nostalgischer Stadtflucht und im Rückzug ins Private den «Herrn der Ringe» zum neuen Kult. Die ersten grossen Krisen des Nachkriegskapitalismus Ende der siebziger Jahre führten zu einer neuen Welle der Fantasy in den Achtzigern, von der vor allem die visuellen Medien Film und Comic profitierten. Und schliesslich bekamen die Millennials in den Zeiten, als sich die Versprechungen des Neoliberalismus in diversen Blasen auflösten, ihre gewaltigen Fantasy­serienspektakel.

Nun, in der Ära von Pandemie, Krieg und Teuerung, entsteht ein neuer Schub, einerseits in einer Reinstallation früherer Erfolgsmodelle («Herr der Ringe»-Ableger «Die Ringe der Macht» auf Amazon, «Game of Thrones»-Spin-off «House of the Dragon» auf HBO, Fortsetzung des «Avatar»-Traums mit dem Untertitel «The Way of the Water» im Kino), andererseits aber durchaus auch wieder als Revision und Variation, nicht nur im Sinne der weiterentwickelten digitalen Produktionsmittel, die wahrhaft versprechen: «Anything goes.» Mit der Hilfe von virtuellem Film und künstlicher Intelligenz verwandelt sich Fantasy von einem romantischen Traum in eine bewohnbare Simulationswelt. Der regressive Rückzugsraum öffnet sich (möglicherweise wie die Hölle im Horror: durch Überfüllun­­g) zu Kommunikation und Denken des Alltags.

Cos­player:innen im Porträt

Corina in der Figur als Red Queen aus Tim Burtons Verfilmung von «Alice im Wunderland»
Corina (39) lebt in Basel und arbeitet als Primarschullehrerin. Im Porträt stellt sie die Red Queen dar, die rote Königin aus Tim Burtons Verfilmung von «Alice im Wunderland». Die Red Queen ist deshalb wichtig für Corina, weil sie die erste Figur ist, für die sie das ganze Kostüm selber genäht hat. Und: «Auch wenn sie zu den Bösewichten zählt, so ist sie doch in Wirklichkeit eine verlorene und verletzte Person, die geliebt werden will.» Die Verwandlung dauert eineinhalb bis zwei Stunden. Die Verkörperung von unkonventionellen, bösen Figuren ist für Corina eine Möglichkeit, ihre eigene verrückte Seite auszuleben. (Alle Fotos aus der Serie) Foto: Florian Bachmann

Der Boom des Genres hat auch mit einem durchschlagenden Erfolg bestimmter Mythen zu tun, die sich als Modell und Keim serieller Produktion anbieten: «Herr der Ringe», «Conan der Barbar», «Harry Potter», «Game of Thrones»… In der Fantasy gibt es keine erfolgreiche kurze Form, alles ist auf epische Grösse, Endlosigkeit, universale Wucherung und Neuinterpretation ausgelegt. Schon darin liegt eines der wesentlichen Angebote des Genres, es geht um eine vollständige und panoramatische Besetzung, um ­einen (unruhigen) Traum von Vollständigkeit und Vollkommenheit, mag er auch in einer Form der vollkommenen Verkommenheit wie in «Game of Thrones» daherkommen. Die Romantik des Genres sucht dem Scheitern der ökonomischen und politischen Vernunft zu entsprechen, die Epik und die Quantitätssucht der Fantasy versprechen ein Antidot gegen Fragmentierung, Pastiche und Widersprüchlichkeit gegenwärtiger Verhältnisse. Fantasy, mag man argwöhnen, will irgendwie alles werden.

Das unterscheidet sie auch vom Märchen, mit dem das Genre immer wieder verglichen wird. Nach einer mittlerweile populären sozialpsychologischen Vorstellung helfen Märchen Kindern dabei, sich von der Abhängigkeit von der Familie abzulösen und ein eigenständiges Ich auszubilden; ein solcher narrativer Ablösungs- und Initiationsritus hat eine abgeschlossene Form, komplett mit Transformationen, fantastischen Begleitungen, Lösung von Aufgaben, Opfer und Belohnung. Fantasy dagegen funktioniert exakt anders herum. An die Stelle der abgeschlossenen Helden­reise (und damit der abgeschlossenen Loslösung) tritt die Konstruktion der ewigen Wiederkehr, und an die Stelle ­eines Abschieds von der Kindheit tritt die beständige Rückkehr. Der Kampf zwischen Gut und Böse, der im Märchen eine Prüfung des Subjekts ist, wird in der Fantasy zu einem historisch-religiösen Mythos ausgeweitet.

Verwandtschaft zu rechter Ideologie

Fantasy ist zwar eine Flucht vor den Anforderungen des Politischen und der Komplexität moderner Gesellschaften, aber das Genre ist zugleich selbst bis in den Kern hinein politisch. Die Verwandtschaft mit rechten, völkischen oder antidemokratischen Ideologien ist immer wieder kritisiert worden: Aus der privaten Regression wird leicht ein regressives Gesellschaftsmodell. Wie eng sich Fantasy und Ideologie in einer Blut-und-Boden-Variante finden, zeigt sich im Kult der russischen «Anastasia»-Fantasy, die von ihren Anhänger:innen direkt in eine völkische Gemeinschaf­t umgesetzt wird. Die prekäre Verwandtschaft von Fantasy und rechter Ideologie lässt sich anhand von sechs Motiven beschreiben, die gleichsam als Schnittstellen ­dienen:

  1. Der endzeitliche Kampf der Guten gegen das Böse, der nur in vernichtenden Schlachten oder im Tod des dunklen Königs und seiner Vasallen entschieden werden kann – selbst in der zynisch-dekonstruktiven Fantasy von «Game of Thrones» wird ein apokalyptischer Endkampf imaginiert.
  2. Die Konstruktion von «Rassen» und ihrer hierarchischen Bestimmung als «edle» und «minderwertige», mit klassischen Merkmalen wie hell/dunkel oder «erhaben»/«erdgebunden».
  3. Die Konstruktion von Führergestalten als grosse Andere, die sich dem autoritären Charakter als Projektionsflächen anbieten.
  4. Die drastisch-reaktionäre Rekonstruktion der Geschlechterordnung mit einer Übereindeutigkeit der Merkmale. Vieles spielt an einer Übergangssphäre zwischen matriarchalen und patriarchalen Elementen; reine Frauen und reine Männer überleben so oder so den Ansturm der Vermischungen.
  5. Das grundlegende Narrativ der grossen Verschwörung.
  6. Das Ideal der ständisch geordneten, überschau­baren Gemeinschaften als Gegenmodell zur modernen ­Gesellschaft.

Nichts davon macht Fantasy zu einem sozusagen strukturell rechten, völkischen und faschismusanfälligen Genre, doch in seiner Gesamtheit stimuliert es gewiss die Herstellung eines «geschlossenen Weltbilds». Die Mehrzahl der Fan­ta­sy­kon­su­ment:in­nen taucht aus den Parallelwelte­­n ewiger Vormoderne und Unerwachsenheit ebenso wieder auf wie, sagen wir, jemand, der sich der kollektiven Regression beim Public Viewing während einer Fussballweltmeisterschaft hingibt. Nicht alle bleiben darin stecken, aber für alle, wie man so sagt, «bleibt etwas hängen»: im Konsumsubjekt wie in der es umgebenden Gesellschaft.

Zu all den «traditionellen» Elementen des Fantasy­genres gibt es freilich auch subversive, kritische oder ironische Gegenbewegungen. Dass Fantasy als Satire auf politische Systeme und absurde Denkmodelle genutzt werden kann, hat schon Stanislaw Lem in seinen «Sterntage­büchern» erprobt; Terry Pratchetts «Scheibenwelt»-Roman­e mache­n es Leserinnen und Lesern noch etwas leichter, über Worldbuilding als Grössenwahn und Ignoranz zu lachen. Zusammen mit Neil Gaiman verfasste Pratchet­­t übrigens mit einem «Völlig anderen Hexen-Roman» auch eine Persiflage auf die religiöse Fantasy, in der Gestalten der christlichen Mythologie – Engel und Teufel – in die Welt gefallen sind und um die Seelen ringen.

Fantasy verbindet sich schliesslich mit einem Teil der ökologischen Bewegung. Graswurzelbewegungen und Landkommunen hatten und haben nicht selten Fantasystoff in sich aufgenommen, Traumbilder, in denen es immer auch einen «Zurück zur Natur»-Aspekt gibt. Die Suggestivkraft, die der Natur im Märchen eigen ist, wandelt sich in der Fantasy zu einer ornamentalen Struktur. Auf dem Gebiet der Illustration sind die Verwandtschaften mit den Symbolwelten des Jugendstils und mit den Erotismen der britischen Präraffaeliten nicht zu übersehen. Flirtet die Illustration der Science-Fiction mit Kunstbewegungen der Moderne, Bauhaus, Col­lage, Abstraktion, Surrealismus, so ist die Bildwelt der Fantasy ­mit einem irren Trip durch die Kunstgeschichte am Leitfaden des Manierismus zu vergleichen. Nicht zur Natur an sich geht der Weg zurück, sondern zur Natur als Dekor; Natur wird in der Fantasy schön, wo sie jede Selbstverständlichkeit verloren hat. So funktioniert sie auch in Peter Jacksons «Herr der Ringe»-Filmen, als Bild von Grösse, Reinheit und Überzeitlichkeit, nicht als märchenhafte (oder horror­immanente) Drohung des Chaos, sondern als Versprechen ewiger ­Ordnung.

Doch alle diese Verbindungen – die mit antimoderner, ­antiindustrieller und ­möglicherweise auch antikapitalistischer Gemeinschaft, die mit christlicher Religion, aber auch Motiven und Bildern aus anderen Religionen und die mit der Ornamentik von Symbolismus und Jugendstil – lassen sich auch in die jeweilige Gegenrichtung verfolgen. Die Beziehung des Genres zum «Heiligen» sind frivol und exploitativ. Die Weltordnungen, die im Worldbuilding errichtet werden, ähneln dem Spiel von Kindern, die etwas aufbauen, nur um es dann mit grösstem Vergnügen wieder zu zerstören. Und was für die religiösen Beziehungen gilt, das gilt auch für die Materialien von Märchen, Sage und Legende. Das Genre befindet sich sozusagen in einem konstanten Fluss der Relektüren.

Marion Zimmer Bradley war vielleicht die erste berühmte Fantasyautorin von vielen, die eine feministische Umdeutung des Genres vornahmen. In ihren «Avalon»-Romanen unterzieht sie die Artuslegende einer Revision durch die Perspektive von dessen Halbschwester Mor­gaine: Der Mythos wird von innen heraus umgestaltet, und für so etwas kann Fantasy den idealen Rahmen ­bilden, insofern hier die Elemente des Mythos gelockert und erleich­tert werden. Man könnte wohl, fehlte es nicht an politischem Bewusstsein und ästhetischer Meisterschaft, unter dem Mantel der Fantasy die Gründungs­legenden des Abendlands neu formatieren. Aber was vielmehr geschieht, ist das, was Zimmer Bradley für den Sieg des patriarchalen Christentums über das matriarchale Keltentum konstatiert, ein «Hinweggleiten in die Nebel der Zeit».

Das Subjekt geht in die Falle

Fantasy eignet sich mehr als andere Genres zu einer Fortsetzung in der Spielwelt. Brettspiele, Rollenspiele, interaktive Verknüpfungen, Cosplay, Live Action Role Playing (Larp), Computerspiele: Stets geht es darum, nicht allein im Kopf, sondern mit den Körpern, mit den so­zia­len Beziehungen, mit den Technologien und Kommunikationsmitteln den Fantasytraum zu leben. Dafür gibt es auch einen Soundtrack: Für die Anspruchsvolleren reicht das von King Crimson über Blue Oyster Cult bis Cambria im Gewand des Progressive Rock, mit der Heroic Fantasy (dem Kriegerkult und dem Männerkörper gewidmet) ist man im Metal bedient – wie bei Manowar, Kamelot oder Nightwish – und schliesslich bekommt man mit Mittelalterrock und Fantasy Folk eine direkte Begleitmusik für Kostümierungen und Reenactment. Das Genre zeichnet auch in dieser Hinsicht ein gewisser Totalitätsanspruch aus.

Doch es geht hier auch um etwas, das in der sozialen Wirklichkeit verloren geht, nämlich um Teilhabe. Fantasy ist ein Rückzugsort für Menschen, die sich in der Wirklichkeit von Prozessen der Gestaltung ausgeschlossen fühlen. Fantasy­welten, so unterschiedlich sie auch sein mögen, zeichnen sich alle dadurch aus, dass es auf den Einzelnen, die Einzelne ankommt. Es ist die Falle, in die man immer wieder gerät: In der Krise, ohne die das Genre nicht auskommt, kann sich das Subjekt nur retten, indem es die Welt verloren gibt. In deren Wiedererrichtung als fantastischer geht wiederum das Subjekt, der selbstbestimmte, erwachsene Mensch verloren. Und noch die ökologische Vernunft kann sich in spirituelle Regression verwandeln, wie zum Beispiel in Darren Aronofskys Film «Noah», wo religiöse Fantasy, die zunächst gegen den Missbrauch der Schöpfung durch den Menschen gerichtet scheint, als negative Konstruktion des Intelligent Design und einer Welt der finsteren Vorbestimmung endet. Die Auseinandersetzung der Fantasy mit Mythos und Ideologie ist ein Prozess mit offenem Ausgang. Vielleicht zu oft geht er verloren.