«Man kann darüber streiten, ob Drachen und Zauberer überhaupt nötig sind» Christine Lötscher und Daniel Illger befassen sich berufshalber mit Fantasy als Sehnsuchtsraum und Sinngefäss.

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WOZ: Christine Lötscher, Daniel Illger, mögen Sie Hobbits? Der englische Fantasyautor Michael Moorcock beschimpfte J. R. R. Tolkiens Halblinge ja mal als ausgeprägte Spiesserfantasie.

Christine Lötscher: Ich mag sie nicht besonders. Aber man darf den Hobbit auch nicht unterschätzen. Für die Poetik der Fantasy ist er insofern wichtig, als er ein Abenteurer wider Willen ist – er benötigt einen äusseren Anstoss, um aufzubrechen. Wenn er dann losgezogen ist, lässt sich den Le­ser:in­nen anhand seiner Entdeckungen die imaginierte Welt näherbringen.

Daniel Illger: Mein Lektor betont immer, dass in der Fantasy Dorfschenken wahnsinnig wichtig seien. Mit den Hobbits verhält es sich ähnlich: Sie zeigen, dass auch ganz gewöhnliche Figuren zu Helden und Heldinnen werden können. Die Fantasy braucht diese Seite des Gemütlichen oder Heimeligen, das in Bedrängnis gerät. Dafür eignet sich der Hobbit perfekt. Mir persönlich ist auch das ­Biertrinken und Pfeiferauchen an den Hobbits ­sympathisch.

Lötscher: Ich warte schon lange auf eine tolle Geschichte über Hobbitfrauen. Das hätte riesiges Poten­zial: wilde Hobbitmädchen, die von zu Hause abhauen, Coming-of-Age und solche Sachen.

Christine Lötscher
Christine Lötscher ist 1970 in Zürich geboren. Sie arbeitet als Literaturkritikerin und seit 2021 als Professorin für Populäre Literaturen und Medien an der Universität Zürich. Foto: Frank Brüderli

Daniel Illger, Sie haben in einem Essay zur «kosmischen Angst» geschrieben, dass Horrorgeschichten dabei helfen können, sich mit der eigenen Sterblichkeit auseinanderzusetzen. Über was liesse sich analog dazu mit Drachen, Zwergen und Zauberern nachdenken?

lllger: Man kann darüber streiten, ob Drachen und Zauberer für die Fantasy überhaupt nötig sind. Generell lässt sich mit ihr die Sehnsucht nach dem Guten und nach Sinnhaftigkeit thematisieren. Karl Heinz Bohrer hat interessante Essays über das Böse als ästhetische Kategorie geschrieben. Darin geht es ihm nicht um die Darstellung von Massakern oder Folterszenen, sondern um eine ästhetische Gestaltung, die nicht sinnhaft sein will, weder allegorisch noch politisch. Das Böse ist sozusagen die Verweigerung allen Sinns. Ich glaube, Fantasy ist das genaue Gegenteil davon: Sie beschreibt eine Welt, in der alles bis ins letzte Detail sinnhaft ist: Jeder Baum ist belebt, jede Herberge hat eine uralte Geschichte, hinter jedem Grashalm lauert ein Abenteuer. Fantasy drückt die Sehnsucht nach Sinn und damit nach dem Guten aus. Man kann mit ihr immer wieder von neuem von einer Welt erzählen, in der selbst die Zerrissenheit und die Gebrochenheit letztlich sinnhaft sind.

Das klingt fast schon religiös: Eine vollständig sinnhafte Welt setzt ja eine Art Schöpfergott voraus, der alles sinnvoll eingerichtet hat, oder?

Illger: Diese religiöse Dimension ist wohl über Tolkiens Poetiken in die Fantasy reingekommen – und ist ihr jetzt nur noch schwer wieder auszutreiben. Bei ihm ist der Gedanke der «Eukatastrophe», wie er es nennt, zentral – die unwahrscheinliche Wendung der Geschichte zum Guten. Tolkie­n begründet das christlich: Für ihn war die Eukatastrophe der Menschheitsgeschichte die Menschwerdung Gottes in Christus – und Gott der grösste aller Geschichtenerzähler. Tolkien zufolge haben wir Anteil an einer höheren Wahrheit, wenn wir auf diese Weise erzählen: Alles wird sich letztlich zum Guten wenden.

Daniel Illger
Daniel Illger, geboren 1977, schreibt selber Fantasy­romane und ist seit Juli 2022 Professor für Populäre Kulturen an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. Foto: Yuliya Boyd

Lötscher: Für mich ist Fantasy eher ein postmodernes Genre. Mit ein Grund, weshalb wir heute über Fantasy reden, ist, dass postmoderne Literatur wieder interessant geworden ist. Es stimmt sicher, was Daniel über Tolkien sagt. Ich aber untersuche in meiner Arbeit auch Kinderliteratur – und da kann man sehen, wie Tolkien von der englischen Kinderliteratur des sogenannten Golden Age und des 19. Jahrhunderts beeinflusst wurde. Die viktorianische Nonsense-Literatur ist ebenfalls in die Fantastik eingeflossen. Fantasy ist deswegen so lebendig, weil das Genre so viel aufzusaugen vermag.

Fantasy kann alles sein, was sie will?

Lötscher: Meine Hauptthese zur Fantasy ist, dass sie ein Metagenre ist. Fantasyromane handeln vom Geschichtenerzählen selbst: Wie kann man Geschichten, die schon existieren, so verweben, dass sich neue Welten ergeben? Da sind wir wieder bei der Sinnhaftigkeit. Aber nur weil alle Geschichten in der Fantasy Platz haben oder sich aufeinander beziehen, heisst das noch lange nicht, dass es am Ende Sinn ergibt. Vielleicht entsteht zwar ein Gefühl umfassender Sinnhaftigkeit, vieles kann aber auch ins Leere laufen. Und dann ist da noch das Phänomen der Fanfiction: Jugendliche und junge Erwachsene schreiben diese Universen fort, oft auch weird, queer oder woke – selbst wenn das Original, auf das sie sich beziehen, konservativ ist. Auch daran sieht man, dass hier eigentlich ausgehandelt wird, wie Geschichten erzählt werden sollen.

Georg Seesslen schreibt in diesem Heft, dass Linke tendenziell ­Science-Fiction lesen würden, Rechte dagegen Fantasy. Woher kommt diese Verbindung von Fantasy und ­Reaktionärem?

Illger: Es gibt in der Fantasy Poetiken, die mit dem Archaischen und mit Männlichkeitsfantasien à la «Conan der Barbar» arbeiten. Wenn man diese Texte oberflächlich liest, kann man schnell meinen, dass darin faschistoide Ansprechstrategien am Werk sind. Auch besagtes religiöses Element ist für den reaktionären Ruf der Fantasy verantwortlich. Aus meiner Sicht macht man es sich damit aber zu einfach.

Lötscher: Als Bonmot klingt das natürlich super, aber es ist verkürzt. Die Genres lassen sich nicht strikt auseinanderhalten. Und wenn Fantasy teilweise konservative Botschaften vermittelt, ist das durch ihren Fokus auf die Vergangenheit begründet. Es geht ja immer um die Frage, wie man alte Geschichten wieder lebendig werden lassen kann: Das ist es, was Fantasy macht. Dabei besteht immer die Möglichkeit, n­­ostalgisch zu erzählen. Und es gibt Bücher wie die «Harry Potter»-Reihe von J. K. Rowling, die extrem wertkonservativ sind, etwa in ihrer Idealisierung der heterosexuellen Kernfamilie. Aber auf der anderen Seite gibt es auch eine Ursula K. Le Guin, die für die feministischen Strömungen in der Fantasy steht. Man muss auch diese Ausprägungen ­berücksichtigen.

Cos­player:innen im Porträt

Ruedi in der Figur Geralt von Rivia aus der Netflix-Serie «The Witcher»
Ruedi (51) lebt in Goldau SZ und arbeitet als Fotograf und Videograf. Im Porträt stellt er Geralt von Rivia dar, besser bekannt als Witcher, Star der gleichnamigen, erfolgreichen Netflix-Serie nach ­Romanen und Kurzgeschichten des polnischen Autors Andrzej Sapkowski. Ruedi gefällt der «mürrische Charakter» des Witcher, und dass er auch witzig sein kann. Gut findet er, dass Geralt kein Jüngling mehr ist, sondern in seinem Alter. Die Verwandlung, inklusive Narben und Perücke, dauert etwa drei Stunden. Im Moment konzentriert er sich ganz auf die Witcher-Figur. (Alle Fotos aus der Serie) Foto: Florian Bachmann

Was ist mit «Game of Thrones» von George R. R. Martin? Wenn darin ein Held wie Ned Stark plötzlich stirbt: Könnte das ein kritischer Kommentar zu Tolkien und dessen Idee von Sinnhaftigkeit sein?

Illger: Das ist sicher ein Kommentar zur Idee, dass die Guten in der Fantasy immer gewinnen werden. Das hat aber Tolkien nicht mit Eukatastrophe gemeint. Ihm geht es darum, dass die Welt als solche eine hoffnungsvolle sein soll, auch über das Zerbrechen einzelner Figuren hinweg.

Lötscher: Vermutlich will Martin vor allem zeigen, was man mit Fantasy alles machen kann – etwa ein mytho­poetisches Neuerzählen von Shakespeare in einer Welt, in der es zwar Magie gibt, an die aber kein Mensch mehr glaubt.

Der Hauptvorwurf an die Fantasy lautet, dass sie eskapistisch sei.

Illger: Den Vorwurf findet man auch in wissenschaftlichen Texten. Die Kritik hängt sich daran auf, dass wir in einer widersprüch­lichen und zer­rissenen Welt leben – und dann kommt die Fantasy und prä­sentiert uns die Hoffnung auf den guten König, der alles richten wird, während wir uns zurücklehnen können. Aber Eskapismus ist nicht prinzipiell verwerflich. Tolkien meinte einmal, dass man jemandem, der im Gefängnis sitzt, nicht vorwerfen könne, vom Ausbruch zu träumen. Er schrieb das vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs und des Aufstiegs des Faschismus. Wenn man an die Krisen der Gegenwart denkt, sieht man, dass die Mög­lichkeitsräume immer weiter schrumpfen: Auch das ist ein Gefängnis, alles scheint unglaublich eng und klaustrophobisch zu sein. Eskapismus lässt sich auch als eine Art Sprengkraft betrachten, als p­oliti­sche Fantasie oder Hoffnung – so wie wir es bei Marlon James finden.

Lötscher: Im Buch «Staying with the ­Trouble» beschreibt die feministische Theoretikerin Donna Haraway, wie Ursula K. Le Guin und die Science-Fiction-Autorin Octavia Butler durch spekulatives Erzählen die Welt immer wieder neu entdecken. Haraway selbst schreibt dann eine Art Fantasy­roman, in dem sie sich vorstellt, wie Interspezies-Menschenwesen aussehen könnten. Hier wird also etwas weitergeschrieben, was beweist, welche Möglichkeiten in der Fantasy stecken. Auch viel gegenwärtige Fantasy versucht erzählerisch, die Grenze zwischen Menschlichem und Nichtmenschlichem auszuloten. Das kann originell und witzig sein oder auch ins Problematische kippen, wenn Tierwesen als die besseren Menschen postuliert werden. Fantasy hat mit ihren spekulativen Möglichkeiten grosses Potenzial, sie ist aber immer auch eine Gratwanderung.

Illger: Vielleicht ist es das, was Fantasy so interessant macht, auch politisch: dass sie tiefe Ambivalenzen in sich trägt. Es gibt in der Fantasy eine Lust am blutrünstigen Heroismus, aber zugleich werden in ihr auch die Konsequenzen solcher Fantasien thematisiert. Der «Conan»-Schöpfer Robert E. Howard ist dabei besonders interessant, weil er zwar eine ultramännliche Kriegerfantasie bedient, aber auch zeigt, wie solche Fantasien zur totalen Auslöschung führen. Wenn ich Kritik an der doofen blutigen und naiven Fantasy höre, frage ich mich manchmal, wieso diese Leute glauben, wir würden in unserer Wirklichkeit ganz woanders stehen. Wir stecken doch mitten in solchen Widersprüchen und Konflikten drin! Fantasy macht das greif- und erfahrba­­r.

Könnte man nicht soga­­r behaupten, dass Fantasy als Massenphänomen ein ge­nuin demokratisches Genre ist?

Lötscher: Man braucht sich nur anzuschauen, was Fantasy­leser:in­nen mit ihrer Fanfiction machen: Eine Kultur des Gegen-den-Strich-Lesens gibt es nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch beim Publikum. In der Fantasy gibt es eine Offenheit, dass alles weitergesponnen werden darf. Das mag nicht allen Au­toren und Autorin­nen passen, ist aber ein Hinweis darauf, dass es sich um ein demokratisches Genre handelt.

Illger: Alle, die das Genre lieben, setzen ihre Fantasieproduktion in Gang: Wie könnte die Geschichte dieser Figur weitergehen? Wie sieht dieses Land genau aus, von dem wir nur den Namen wissen? Fantasy will, dass ihre Geschichten über die Bücher, Filme oder Spiele hin­ausreichen und weitergesponnen werden.

Lötscher: Progressive Universalpoesie, wenn man so will. (Lacht.)

Was sind denn aktuelle Themen der Fantastik­forschung?

Lötscher: Etwa die Forschung zu Fankulturen. Meine Dok­to­rand:in­nen fragen zudem danach, wie Erzähluniversen aufgebaut sind. Oder sie untersuchen, wie in spekulativen Genres artenübergreifende Geschichten erzählt werden, wozu sie dann neomaterialistische oder ökofeministische Theorien heranziehen.

Illger: Die Frage nach den Beziehungen über die Grenzen der Arten hinweg ist etwas, was Fantasy besonders gut kann: Welten entwerfen, in denen Wesen, die unterschiedlichen Seinskategorien anzugehören scheinen – ob Mensch, Tier oder Monster – Beziehungen untereinander entwickeln.

Ich habe zum Beispiel eine Doktorandin, die zu Mensch und Tier im Videospiel forscht, ein grosses Thema in vielen Games. Dabei wird mitunter die Sehnsucht bedient, in andere Wesen hineinzuschlüpfen und sozusagen Tier zu werden. Eine weitere interessante Frage ist die nach dem Heroismus in der Fantasy. Es gibt keine Fantasy ohne Helden, bei aller Gebrochenheit. Überhaupt scheint das postheroische Zeitalter inzwischen wieder zu Ende zu sein. Das berührt einen zentralen Konflikt unserer Gegenwart: Was soll eigentlich das Heldische sein? Brauchen wir so etwas überhaupt – und wenn ja, warum? Fantasy ist ein Ort, an dem man diese Sehnsucht gut untersuchen kann, gerade auch wegen des Archaischen, wegen all dem, was daran problematisch sein mag.

Fantastikforschung klingt nach etwas, an dem man viel Spass haben kann. Ist das auch so?

Lötscher: Man muss schon ein spezieller Typ sein, um populäre Literaturen und Medien zu erforschen. Es braucht die Bereitschaft, die ganze Freizeit mit Lesen, vorm Fernseher oder an der Playstation zu verbringen. Wenn man daran keinen Spass hat, ist es sehr brutal. Unsere Studierenden brauchen ­Sitzleder.

Illger: Das berührt ­einen wichtigen Punkt: Es gilt permanent, das eigene Involviertsein in die Fantasieproduktion zu analysieren. Man muss reflektieren, was man da begehrt, wenn man diesen speziellen Helden oder diese spezielle Welt faszinierend findet: Wie bin ich da selbst mit drin verstrickt? Eine solche Reflexion ist ein eminent politischer Akt.

Lötscher: Kulturtheoretisch könnte man hier von Situiertheit sprechen: Also dass man seine eigene Involviertheit stets zu reflektieren hat. Deswegen lehren wir an der Uni nicht nur Inhalte, sondern auch, eine Haltung zu diesen zu entwickeln.

Selbstreflexion kann auch ernüchternd sein – wenn man etwa feststellt, dass man sich nach Ermächtigungsfantasien sehnt und gerne in einem Game als Krieger das Grossschwert schwingt.

Illger: Mir geht es häufig so, dass ich, wenn ich gerade von der Arbeit überwältigt bin oder an einem komplizierten Text sitze, nicht noch Videospiele brauche, in denen ich stundenlang über meine Entscheidungen grübeln soll. Da bevorzuge auch ich das gepflegte Blutbad. Aber selbst das kann die interessante Frage aufwerfen, warum es denn gerade der Krieger mit Grossschwert oder der riesigen Kanone sein muss. Das ist viel spannender, als das alles von vornherein als böse, weil furchtbar gewalttätig und blutig, abzutun.

Das ist doch ein schönes Plädoyer zum Schluss.

Illger: Ich würde noch gerne etwas ergänzen: Ich erlebe Fantasy oft als etwas beinahe Tragisches, weil viel von dem, was das Genre leisten könnte, nicht verwirklicht wird. Dabei ist doch schon in Tolkiens Fantasy etwas wunderbar Schräges und Seltsames. Wenn wir nochmals an die Hobbits denken: Das sind ja wirklich komische Figuren mit ihren riesigen, behaarten Füssen. Sie ziehen zwar durch die Welt, würden aber viel lieber zu Hause beim dritten Frühstück sitzen. Man kann das spiessig nennen. Man kann darin aber auch die Sehnsucht danach entdecken, selbst im Spiessigen das Schräge zu finden. Gerade in der Fantasy gibt es viele nichtnormierte Figuren mit nichtnormierten ­Sehnsüchten.

Lötscher: Ich beschäftige mich derzeit vor allem mit feministischer Science-Fiction und sehe da viel Aufbruchstimmung. Ausser­dem bin ich ohnehin eher in hybriden Genres unterwegs, wo alles weird, queer und überraschend ist, wo mit Elementen der Fantasy gespielt wird.

Illger: In der englischen High Fantasy, also all dem, was sich irgendwie auf Tolkien zurückführen lässt, ist es schwerer, so etwas zu finden. Wobei mir in meiner Berliner Stammbuchhandlung eben erst ein richtig guter Roman empfohlen wurde: «Blackwing» von Ed McDonald. Das Buch hat einerseits eine sehr klassische Fantasy­poetik, die aber ästhetisch wundervoll aktualisiert ist – auch mit einer gewissen Queerness, alle Figuren sind irgendwie verstümmelt oder völlig versehrt. Dadurch bekommt der Roman eine gewisse Drehung, was vielleicht genau das erzeugt, was Christine «Aufbruchstimmung» genannt hat.