Kollektives Tagträumen An einem Tisch sitzen und sich Abenteuer ausdenken: Das Rollenspiel «Dungeons & Dragons» wird immer beliebter.

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Und dann kommt von der anderen Seite des Seeufers eine Biene geflogen, so gross wie ein Flugsaurier und so laut wie eine Baustelle, und macht euch keine Illusionen, sie ist sehr, sehr wütend. Der Pinguin hat die Fähigkeit, den Aggregatzustand von Wasser zu verändern, und lässt darum eine Eiswand aus dem See emporwachsen, aber das wird als Schutz nicht lange reichen. Das Grüpplein, das gerade den verwunschenen Garten inmitten baumhoher Rüben und schafgrosser Blattläuse erkundet, berät sich panisch: Was tun? «Rennen», entscheiden sie; «würfeln», sagt der Spielleiter.

Um den Stubentisch einer Zürcher Wohnung sitzen fünf Leute, vor ihnen einige Blätter, Notizhefte, Schachteln voller bunter Würfel, manche mit acht, die meisten mit zwanzig Seiten, es gibt Pasta, Bier, manchmal eine Zigarettenpause. Einige Stunden werden sie heute hier sitzen und sich in einer Zauberakademie und deren Hof­garten zurechtfinden.

«Dungeons & Dragons» (kurz: «D & D») heisst das Spiel, das sie an diesem Abend in eine gemeinsame fantastische Welt abtauchen lässt. Von den Spieleautoren Gary Gygax und Dave Arneson in den USA entwickelt, kam es 1974 auf den Markt; es gilt als erstes Pen-and-Paper-Spiel der Welt, heute ist es auch das am weitesten verbreitete. Zum Spielen braucht es kaum Material, ausser eben Stift, Papier und ein paar Würfel. Eine spielleitende Person, im Jargon Dungeon Master (DM), führt durch eine von ihr entworfene Welt, die anderen spielen jeweils einen Charakter und stellen sich gemeinsam den Abenteuern. Ein bisschen wie Krimidinner, aber mit speziellen Regeln: Den Charakteren stehen zum Beispiel Spells zur Verfügung, die sie in Kämpfen anwenden können; über die Spielzeit gewinnen diese Zaubersprüche an Stärke.

Cos­player:innen im Porträt

Viktoria in der Figur Nezuko aus der Mangaserie «Demon Slayer»
Viktoria (9), auch Viki genannt, wohnt in Fehraltdorf ZH  und geht in die vierte Klasse. Im Porträt stellt sie die Figur Nezuko aus der Mangaserie «Demon Slayer» dar. An Nezuko gefällt Viki, dass sie «süss, aber auch stark» ist – und dass es in diesem Anime um Geschwisterliebe geht. Die Verwandlung dauert ungefähr zwanzig Minuten. Viki verkörpert gern auch andere Figuren aus «Demon Slayer» und interessiert sich zudem für andere Akteur:innen aus dem Anime-Universum. (Alle Fotos aus der Serie) Foto: Florian Bachmann

Und immer wieder müssen die Spielenden aus­würfeln, ob ihnen ein bestimmtes Vorhaben gelingt. Sich eine Riesenbiene vom Hals halten, zum Beispiel. So, dass sich drei aus der Abenteuergruppe im magischen Garten locker in den Rübenwald flüchten können – die Vierte, die zu tief würfelt, verfängt sich in einer Wurzel und fällt, Gesicht voran, auf den sandigen Boden. Die anderen wiederum müssen entscheiden: Helfen wir ihr, und wenn ja, wie? Oder verstecken wir uns lieber?

Stets neuen Situationen begegnen die Spielenden in einer sogenannten Kampagne, einem Spiel also, das meist über mehrere Runden hinweg gespielt wird und das sich auch mal über Jahre ziehen kann. Immer von neuem eintreten in eine gemeinsam erdachte Welt, eine Art kollektives Tagträumen. Dabei beeinflussen sowohl DM als auch Spielende den Lauf der Dinge. Wo ein Spiel am Ende hinführt, ist oft kaum voraussehbar.

Improtheater mit Regeln

Die Welt von «Dungeons & Dragons» wurde ursprünglich als Fantasywelt konzipiert. Die Spielefirma Wizards of the Coast, der neben dem extrem erfolgreichen Sammel­kartenspiel «Magic. The Gathering» auch «D & D» gehört, verkauft ausser Regelwerken auch Kampagnengrund­lagen, die ohne viel Aufwand durchgespielt werden können. ­Eigentlich aber haben Gygax und Arneson damals ein Spiel geschaffen, das sich der Kontrolle seiner Macher entzieht: Je besser man die Regelwerke kennt, desto weiter kann man sich von ihnen entfernen; kann, was einem nicht gefällt, einfach weglassen – oder eine ganz eigene Welt entwerfen.

Lu Malach und Martin Ritzmann sitzen vor Aperol Spritz und Bier im lauschigen Innenhof einer Berner Beiz, es ist voll und heiss, die Leute wuseln in ihren Feierabend. «‹D & D› ist für uns vor allem Mittel zum Zweck, es gibt dir ein paar Leitplanken, die helfen, sich zu orientieren», meint Ritzmann, «aber die Welten, in denen wir uns bewegen, haben kaum mehr etwas mit Fantasy zu tun. Ich selbst mag am liebsten Cyberpunk.» Ritzmann und Ma­lach spielen seit Jahren «D & D», leidenschaftlich, wie sich im Gespräch herausstellt: Man muss kaum Fragen stellen, ihre Begeisterung treibt das Gespräch voran. Beide spielen auch Theater – das helfe, meinen sie, die «D & D» als eine Art Improtheater mit Regeln umschreiben. «Ich will von Anfang an Schauspiel an meinem Tisch», sagt Malach und lacht, «deshalb spiele ich am liebsten mit anderen Theaterleuten. Aber das ist natürlich nicht zwingend.»

«Dungeons & Dragons» wurde lange als Spiel für Nerds abgetan, und der klassische Nerd ist in den Köpfen der meisten immer noch weiss und männlich. In den letzten paar Jahren allerdings hat das Spiel mächtig an Popularität gewonnen: Da war die Pandemie mit ihren Lockdowns, die die Flucht in eine weitläufige Abenteuerwelt, in der so vieles möglich ist, attraktiv machte. Und da war auch die beliebte Netflix-Serie «Stranger Things», in der die vier Hauptcharaktere regelmässig «D & D» spielen und denen das Spiel eine Hilfe ist, sich die seltsamen Ereignisse zu erklären, die in der Welt um sie herum passieren. «D & D» scheint gerade überall zu sein: dieses Jahr als ­Musical in New York, nächstes Jahr als Spielfilm im Kino oder als Grundlage für Videogames wie etwa die sehr erfolgreiche «Baldur’s Gate»-Reihe. «Der Nerd von heute ist cooler als noch vor fünf oder zehn Jahren, er wird auch weniger stigmatisiert», sagt Ritzmann.

Wer nicht am Tisch sitzt

Für Wizards of the Coast war 2021 das lukrativste Jahr seit der Gründung: 1,3 Milliarden Dollar Umsatz konnte die Spielefirma verzeichnen, 74 Prozent davon strichen Tabletop-Games ein, allen voran «Magic. The Gathering», dicht gefolgt von «Dungeons & Dragons», «Duel Master» und «HeroQuest». Die Community hat sich vergrössert – und verändert. Das zeigen aktuelle Entwicklungen: Das neuste «D & D»-Regelwerk von Wizards of the Coast, 2014 auf Englisch erschienen, sieht auch Charaktere vor, die nonbinär sind; der Trailer zum Film «Dungeons & Dragons. Honor Among Thieves» verspricht einen diversen Cast mit vielen Frauen und PoC-Charakteren. Seit einigen Jahren ist es ausserdem üblich, in den grossen «D & D»-Streams, die von vielen Leuten weltweit auf den Onlineplattformen Twitch oder Youtube verfolgt werden, sogenannte Safety Tools einzubauen: die Möglichkeit etwa, bei Grenzüberschreitungen innerhalb des Spiels ein Time-out einzuberufen. Auch sind dort mittlerweile Inhaltswarnungen zu Beginn verbreitet.

Trotzdem: «Wer an einen Nerd denkt, denkt bestimmt nicht an mich», meint Malach. Auch im eigenen Umfeld seien die meisten, die «D & D» spielten, immer noch weiss und männlich. Das habe auch Auswirkungen auf die Spielwelt: «Wer nicht am Tisch ist, wird nicht mitgedacht. Wenn da keine Schwarze oder körperlich beeinträchtigte Person sitzt, dann wird im Spiel höchstwahrscheinlich auch keine vorkommen.» Die fehlende Diversität hat aber auch ganz einfach mit Vorbildern und Vorstellungen zu tun: Wer auf Google «D & D Fighter» in der Bildsuche eingibt, stösst auf eine Liste ausschliesslich weisser Figuren.

Eine flexible Spielwelt ist eben noch nicht ausreichende Voraussetzung dafür, dass die Spielenden flexibel sind, es braucht dafür eine bewusste Auseinandersetzung. Dabei ist «D & D» prädestiniert dafür, alle möglichen Identitäten aufzunehmen – und sie im Spiel auszuprobieren. Malach hat durch das Spielen überhaupt erst realisiert, vielleicht trans-nonbinär zu sein, und konnte sich durch die Spielwelt an die Möglichkeit herantasten: «Ich habe eine nonbinäre Figur verkörpert und dachte mir so: Das fühlt sich eigentlich ganz gut an.»

Ein Stück weit echt

«Dungeons & Dragons» ist in diesem Sinn auch immer ein Spiegel der realen­ Welt – die Spielenden müssen sich mit Pro­blemen herumschlagen, die für sie, versunken in ­ihrem Spiel, eben doch ein Stück weit echt sind. ­Eigentlich seien alle Kampagnen­, die sie machten, politisch, sagen Malach und Ritzmann: Es gehe häufig um ganz grundsätzliche Fragen, darum etwa, wie man als Gesellschaft mit extremistischen Gruppen oder Grenzüberschreitungen umgehe, wie man Aus­sen­sei­ter:in­nen aufnehme, wie man füreinander­ da sein könne. «Du spielst einen Charakter mit Schwächen und Stärken, da ist auch immer ein Teil von dir drin. Das macht verletzlich», sagt Martin Ritzmann. Und das macht auch etwas mit der Gruppe: Das Spiel könne auch mal tagelang noch weiterschwingen, wenn alle längst wieder in ihrem Alltag lebten und doch nicht von den im Spiel aufgeworfenen Fragen und Diskussionen loskämen.

Es geht um viel mehr als um Verliese und Drachen: Identitäten erkunden, Gruppendynamiken ausprobieren, soziale Skills üben, Fehler ausbügeln. So wie es die Jungs in «Stranger Things» vormachen, kann «D & D» also ein Mittel sein, sich die Welt ein Stück weit zu erklären. Die zwei weissen, männlichen Nerds, die sich «Dungeons & Dragons» in den Siebzigern ausdachten, waren sich dessen vielleicht gar nicht bewusst: dass ihr Spiel schon in der Anlage so konzipiert ist, dass es über sich hinauswächst.