Russische Opposition: Wer Nawalnys Rolle einnehmen könnte, ist ungewiss

Nr. 8 –

Alexei Nawalnys Witwe Julia hat angekündigt, dessen Kampf weiterführen zu wollen. Sie wird damit Teil eines überschaubaren Kreises von Exiloppositionellen, der derzeit erstaunlich desorientiert wirkt.

Tränen, Schock und Fassungslosigkeit in den Gesichtern der Trauernden: Seit Alexei Nawalnys Tod legen sie in Moskau vor zwei Denkmälern für die Opfer politischer Repression haufenweise Blumen nieder. «Nicht stehen bleiben», lautet die Order der Polizeikräfte. Porträts und Menschenansammlungen sind unerwünscht, politische Parolen sowieso. Nur still und leise darf in Russland um einen populären Andersdenkenden getrauert werden.

Nawalnys Team hält eine natürliche Todesursache für ausgeschlossen. Gut möglich, dass ihm ein weiteres Mal, wie schon 2020, ein Giftstoff verabreicht wurde. Aber selbst wenn nicht, stand es um seine Überlebenschancen nicht gut. Über 300 Tage war er in Isolationshaft gewesen, praktisch komplett von der Aussenwelt abgeschnitten, sogar das Trinkwasser war rationiert – das ist Folter. Es war ein Mord auf Raten, an dem immer weniger Menschen Anteil zu nehmen schienen, weil der Traum von einem anderen Russland mit Beginn des gross angelegten militärischen Angriffs auf die Ukraine ausgeträumt war.

Gerichtsverhandlungen als Bühne

Im Westen tritt die russische Exilopposition derzeit mit vielen mehr oder weniger bekannten Namen in Erscheinung, aber sie wirkt erstaunlich orientierungslos. Ihre Beziehung zu Alexei Nawalny war schon immer von Reibereien und Konflikten geprägt. Nicht zuletzt, weil dieser gern im Alleingang operierte, experimentierte und in die Offensive ging, wo andere sich in Zurückhaltung übten. Seine Entscheidung, nicht im Exil zu bleiben und von dort aus, aus relativ sicherer Distanz, vom überwiegenden Teil der russischen Bevölkerung abgeschnitten, gute Ratschläge zu erteilen und sich der Unterstützung westlicher Regierungen zu versichern, war eine Kampfansage an den Kreml. Niemand sonst in der Opposition nahm sich so viel heraus.

Nawalny war ein politisches Ausnahmephänomen, wie gemacht für das Präsidentenamt in einem Russland der Zukunft – ohne Wladimir Putin. Seit den Massenprotesten für faire Wahlen 2011 und 2012 nahm er die Rolle des Oppositionsanführers ein.

Ein Politiker mit ernsten Machtambitionen braucht eine grosse Bühne. Seit Nawalnys Rückkehr nach Russland im Januar 2021 blieben ihm nur Gerichtsverhandlungen für seine Reden. Diese hatten es in sich. Gekonnt und mit Wortwitz führte er Russlands Justiz und Putins Regime vor. Aus der Haft heraus nahm er Stellung zum Tagesgeschehen. Er verhielt sich so gar nicht wie jemand, der in die Enge getrieben, ja gänzlich der brutalen Willkür eines menschenverachtenden Apparats ausgeliefert ist. Selbst aus dem Exil heraus frei sprechende Oppositionelle kamen weniger authentisch daher.

Die wunden Punkte aufgezeigt

Nawalny hat viel früher als andere begriffen, wie sich politisch unbedarfte Menschen aus der Reserve locken und begeistern lassen. Freude am Argumentieren, ein starkes Auftreten, aber auch Nähe zum Publikum gehörten zu seinen Stärken. Er schöpfte so ziemlich alle legalen Mittel aus, um die wunden Punkte des putinschen Machtsystems aufzudecken. Als Kleinaktionär stieg er bei Grossunternehmen ein, einmal kandidierte er bei Wahlen für das Bürgermeisteramt in Moskau. Mit seinem Antikorruptionsfonds FBK legte er den unermesslichen Reichtum der russischen Führungsclique offen. Insbesondere unter Jüngeren mobilisierte er eine wachsende Anhänger:innenschaft, die bereit war, lautstark auf der Strasse zu protestieren und sich in seinen Regionalstäben zu engagieren. All das klingt inzwischen wie Geschichtsunterricht.

Am Montag kündigte Julia Nawalnaja, Alexeis Witwe, an, seinen Kampf weiterführen zu wollen. Sie sei glücklich an seiner Seite gewesen, sagte sie erstaunlich gefasst in ihrer Videobotschaft. «Aber heute will ich an eurer Seite sein, weil ich weiss: Ihr habt nicht weniger verloren als ich.» Sie appelliert, sämtliche Möglichkeiten zu nutzen, um sich gegen Krieg, Korruption, Ungerechtigkeit, für faire Wahlen und Meinungsfreiheit einzusetzen.

Ihre Entscheidung, die neu entstandene Leerstelle füllen zu wollen, zeugt von Mut und Willenskraft. Nawalnaja springt in die Bresche und hält, bildlich gesprochen, ihren Kopf hin in einer Situation, in der praktisch keine jener politischen Spielräume mehr bestehen, die ihr Mann einst so bravourös zu nutzen wusste. Anders als dieser seinerzeit befindet sie sich aber im Ausland. Bleibt sie dort, weicht sie damit automatisch von seinem Kurs ab. Sie rückt damit in die Nähe der etablierten russischen Oppositionellen aus dem liberalen Spektrum. Wobei sie nicht nur als Bündnispartnerin, sondern auch als Konkurrentin in diesen überschaubaren Kreis tritt. Einige wenige, etwa Dmitri Gudkow oder Maxim Katz, haben ihr ihre Unterstützung zugesagt, andere wollen sich nicht festlegen.

Inhaltlicher Findungsprozess

Mit zwei Vorteilen gegenüber anderen Oppositionellen kann Julia Nawalnaja aufwarten: mit den Sympathien europäischer und US-amerikanischer Institutionen, die ihr einen unmittelbaren Zugang zu dortigen politischen Entscheidungsträger:innen verschaffen, und mit dem Antikorruptionsfonds FBK als effektivem investigativem Instrument. Sie wird jetzt voraussichtlich dessen Leitung übernehmen. Zu den Gesprächen im Europäischen Rat diese Woche wurde sie von der Führungsriege des FBK begleitet. Sie rief dort dazu auf, das Ergebnis der russischen Präsidentschaftswahl nicht anzuerkennen.

Mit Lobbyismus befassen sich auch andere Mitglieder der russischen Opposition, dabei geht es ihnen auch um die eigene Legitimierung. Darüber hinaus steckt diese inhaltlich jedoch noch in einem Findungsprozess fest. Muss die militärische Unterstützung der Ukraine forciert werden? Wie steht es um die Haltung zu militantem Widerstand in Russland? Ob der ehemalige Schachweltmeister Garri Kasparow, ob Michail Chodorkowski, der sich im Übrigen eher als Manager denn als Politiker versteht, oder weniger bekannte Figuren aus der zweiten Reihe – sie alle bringen zwar ihre Visionen von einem zukünftigen Russland in aktuelle Diskussionen ein. Aber anders als Nawalny haftet ihnen das Manko an, vorrangig im Interesse des Westens zu agieren.

Eine Geste der Verweigerung

Im Moment muss sich Julia Nawalnaja von vielen Seiten den Vergleich mit Swetlana Tichanowskaja gefallen lassen. Als Präsidentschaftskandidatin 2020 bei den Wahlen in Belarus genoss Tichanowskaja einen enormen gesellschaftlichen Rückhalt. Als gut vernetzte Exilpräsidentin tritt sie vorbildlich für die Interessen von Belarus:innen ein, die vor politischer Verfolgung geflohen sind. In Belarus hingegen hat sie kaum Einfluss.

Chodorkowskis Vorschlag, sich am letzten Tag der Präsidentschaftswahlen in Russland Mitte März um 12 Uhr Ortszeit in den Wahllokalen einzufinden und auf dem Stimmzettel Alexei Nawalny als Kandidaten hinzuzufügen, ist leicht umsetzbar, aber nicht mehr als eine Geste der Verweigerung. Vielleicht ist die Frage nach Nawalnys Nachfolge auch müssig. Sobald sich irgendwann Risse in Russlands Machtgefüge auftun, steht auch in der Opposition ein politischer Neuanfang an.