Durch den Monat mit Mareice Kaiser (Teil 3): Wieso haben wir solche Angst vor Behinderung?

Nr. 12 –

Die Autorin Mareice Kaiser hatte eine Tochter mit Behinderung. Das Leben bestehe nicht aus Gesundheit, Perfektion und nichtbehinderten Körpern, sagt sie. Das müsse man aushalten – und anerkennen.

Portraitfoto von Mareice Kaiser
Mareice Kaiser: «Wir leben in einer segregierten Gesellschaft: Menschen ohne Behinderung sind selten bis gar nicht in Kontakt mit Menschen mit Behinderung.» Foto: Jana Rodenbusch

WOZ: Frau Kaiser, Sie sind Mutter einer Tochter, die mit einer mehrfachen Behinderung zur Welt kam und im Alter von vier Jahren verstarb. Was hätten Sie und Ihr Partner damals als Eltern gebraucht?

Mareice Kaiser: Das, was viele Eltern von behinderten Kindern brauchen: als Eltern wahrgenommen zu werden. Dass nicht die Behinderung ihres Kindes im Vordergrund steht, sondern die Tatsache, dass sie gerade Eltern geworden sind. Dass gratuliert wird, dass sich gefreut wird – Anteilnahme, Blumen, Kuchen, eine Suppe vor die Tür gestellt wird. All diese Sachen. Das hielt sich bei uns in Grenzen, weil alle dachten: O Gott, ein behindertes Kind.

In Ihrem ersten Buch, «Alles Inklusive. Aus dem Leben mit meiner behinderten Tochter», schreiben Sie auch von Reaktionen aus Ihrem Umfeld. «Ich könnte das nie!», haben Sie immer wieder gehört.

Diesen Satz finde ich richtig schlimm. Das bringt der Person, der man das sagt, überhaupt gar nichts. «Ich könnte das nie» – was bedeutet das überhaupt? Was soll ich darauf sagen? «Ja, ich auch nicht»?

Und dann kommt die grosse Betretenheit.

Ja, und vor allem: Was soll danach passieren? Ich sage, ich kann das nicht, Sie sagen, Sie können das nicht. Dieses vermeintliche Kompliment schafft nur eines: Abstand zwischen einander. Und hier kommen wieder ganz grundlegende Dinge ins Spiel: Unsere Gesellschaft ist nicht darauf ausgerichtet, mit Kindern zu leben. Das wird noch krasser, wenn das Kind eine Behinderung oder Krankheit hat.

Gleichzeitig glorifiziert man Mütter mit behinderten Kindern als «Powermoms».

Man wird so auf ein Podest gestellt. Und da ist es ganz schön einsam. Zu sagen: «Was du machst, könnte ich nie», schafft einen ziemlichen Abstand, keine Nähe. Dabei ist es genau das, was man brauchen würde: Nähe. Menschen, die gewisse Dinge mit einem aushalten. Die eben aushalten, dass das Leben nicht aus Gesundheit, Perfektion und nichtbehinderten Körpern besteht. Sondern aus sehr viel mehr.

Distanz abzubauen, bedeutet auch, behinderte Menschen sichtbarer zu machen. Achtzig Prozent meines Freund:innenkreises haben Kinder, und bei keinem einzigen weiss ich von einer Behinderung. Und damit meine ich auch Kinder, die vielleicht eine nicht sichtbare Behinderung haben. Wie kriegen wir diese Sichtbarkeit hin?

Ich habe kürzlich für ein Interview mit der behinderten Künstlerin Amie Savage geredet. Sie fordert, dass Menschen Behinderung in ihr Leben einkalkulieren. Dass ganz selbstverständlich wird, dass sie auch mit einer Behinderung leben könnten. Nur drei Prozent aller Menschen mit Behinderung werden mit ihr geboren. 

Alle anderen erwerben sie im Lauf ihres Lebens. Dazu gehört auch, dass Menschen einkalkulieren, dass sie ein behindertes Kind bekommen könnten. Das hängt ja immer wie ein Damoklesschwert über der Schwangerschaft.

Sie zum Beispiel waren bei der Geburt Ihrer Tochter nicht überrascht.

Na ja, ich hatte mir das alles schon anders vorgestellt, ohne Intensivstation und Todesangst. Aber ja, ich hatte Behinderung und Krankheit einkalkuliert.

Sie schreiben in Ihrem Buch: «Mein Kind ist das Kind, vor dem sich alle fürchten.» Wieso haben wir solche Angst vor Behinderung?

Ich würde gerne präzisieren: Menschen ohne Behinderungen haben Angst vor Menschen mit Behinderungen. Aus dem einfachen Grund, dass sie mit Menschen mit Behinderung selten bis gar nicht in Kontakt sind. 

Wir leben in einer segregierten Gesellschaft: Behinderte Kinder wachsen noch immer in Sonderwelten auf und haben kaum Kontakt mit Nichtbehinderten. Es fehlt ganz einfach das Zusammensein.

Was braucht es auf gesellschaftlicher Ebene?

Am Ende geht es ja um die Übertragung aufs System. Dass ganz normal wird, dass jemand nicht laufen oder sprechen kann. Dass es normal ist, dass jemand in Gebärden kommuniziert oder auf leichte Sprache angewiesen ist. Wenn so was als normal wahrgenommen wird, dann wird auch klar, was wir brauchen.

Zum Beispiel?

Websites nicht nur in schwieriger, sondern auch in leichter Sprache. Alle Häuser, die neu gebaut werden, müssen barrierefrei gebaut werden. Bei jeder öffentlichen Veranstaltung braucht es Gebärdensprache. Es muss klar sein, dass in Schulen jedes Kind die Unterstützung bekommt, die es braucht. Und das unabhängig davon, ob es ADHS hat, auf einen Rollstuhl angewiesen ist oder mit zehn Jahren schon Spitzensportler ist. Ich denke, da braucht es einfach die politische Übertragung davon, dass … Okay, jetzt kommt ein grosser Satz. Das klingt jetzt wie die Bewerbung zur Bundeskanzlerin.

Ich höre.

Es braucht die Akzeptanz, dass Vielfalt normal ist.

Also meine Stimme haben Sie.

(Lacht.) Danke.

Seit dem Tod ihrer Tochter hat sich die Autorin Mareice Kaiser (42) immer wieder öffentlich für mehr Inklusion starkgemacht. 2023 ist von ihr und der Psychologin Rebecca Maskos das Sachbuch «Bist du behindert, oder was?» erschienen.