Präsidentschaftswahl in Russland: Ein Kraftakt fürs Selbstbild

Nr. 12 –

Das Regime hat alle Register gezogen, um sich den Anschein breiten Rückhalts in der Bevölkerung zu verpassen. Das Wahlresultat wird Putins Spielräume aber kaum entscheidend vergrössern.

Putins Rede zum Jahrestag der Krim-­Annektierung wird auf einer Leinwand in Moskau übertragen
Grosse Inszenierung am Tag nach dem Wahlsieg: Putins Rede zum Jahrestag der Krim-­Annektierung wird auf einer Leinwand in Moskau übertragen. Foto: Nanna Heitmann, Laif

Der Wahlsieg mit sagenhaften 87,28 Prozent der Stimmen sagt viel über Präsident Wladimir Putins Verständnis von Machtausübung, aber wenig über seinen wahren Rückhalt in der Bevölkerung aus. Was die Menschen tatsächlich denken, ist für das Regime letztlich irrelevant – solange sie keine Eigeninitiative ergreifen und sich nicht, ohne den Staat um Erlaubnis zu fragen, zusammenschliessen. Der nun für sechs Jahre wiedergewählte Präsident degradierte im Verlauf seiner bisherigen vier Amtszeiten die Gesellschaft zu einem Scheinsubjekt, das zu liefern hat, was ihm abverlangt wird.

Nicht auf Knopfdruck

Am Wochenende hatten die Wahlberechtigten ihr Kreuz an der richtigen Stelle zu machen. Eine grosse Schar von Wahlhelfer:innen sorgte für einen möglichst reibungslosen Ablauf – und am Ende wohl auch für geschönte Zahlen. Die nötige Routine dafür bringen sie mit. Und trotzdem dürfte es ein Kraftakt gewesen sein, das extrem gute Wahlergebnis und die für russische Verhältnisse rekordhohe Wahlbeteiligung von über 77 Prozent zu erreichen, selbst wenn beide nur auf dem Papier existieren.

Der Wahlkommission und anderen ins Prozedere eingebundenen Behörden stand ein Arsenal an Instrumenten zur Verfügung: Nichtzulassung unabhängiger Kandidat:innen, Kontrolle über die Stimmabgabe, Polizeipräsenz und Einschüchterung in den Wahllokalen, Unterbindung einer flächendeckenden unabhängigen Wahlbeobachtung, direkte Manipulation der Wahlergebnisse und viele mehr.

Andrei Kolesnikow, langjähriger Kremlbeobachter der Zeitung «Kommersant», stellte Putin bei dessen erstem Auftritt nach Schliessung der Wahllokale die Frage, ob das Ergebnis und die ganze Situation rundherum das seien, wovon er geträumt habe. Putin antwortete: «Ich habe von einem starken und souveränen Russland geträumt.» Sinngemäss bedeutet das: Putin glaubt, das Land zu personifizieren – und folglich tun und lassen zu können, was er will. Ob dem wirklich immer so ist, steht indes auf einem anderen Blatt. Russlands Machtgefüge mag auf seinen Präsidenten zugeschnitten sein, aber einfach so auf Knopfdruck lässt sich der komplexe Apparat aus der Kommandozentrale heraus dann doch nicht steuern.

Gerade aussenpolitisch ist Putins Spielraum durchaus begrenzt, auch wenn er diese Grenzen ohne Rücksicht auf Verluste jeweils dort überschreitet, wo er sich als Sieger wähnt. Den Spielregeln westlicher Demokratien stellt er demonstrativ seine eigenen entgegen, wohl wissend, dass auf sein Superwahlergebnis neue Sanktionen folgen werden. Bislang sind diese offensichtlich verschmerzbar. Und angesichts des Wahlresultats wird er künftig zudem mit dem Argument aufwarten, dass die von ihm vor zwei Jahren initiierte «militärische Spezialoperation» gegen die Ukraine von Russlands Gesamtbevölkerung bedingungslos mitgetragen werde. Das Bild einer geschlossenen Front, die Russlands Gesellschaft hinter Putins Rücken bilden soll, ist ein zentraler Stützpfeiler im Selbstverständnis des Regimes.

Niederlagen im Ausland

Zur Wahrung der demokratischen Fassade waren neben dem Präsidenten drei weitere Kandidaten zur Wahl zugelassen. Darunter Wladislaw Dawankow von der Partei Neue Leute: Der Vierzigjährige gilt als systemkonformer Liberaler, dessen Wahlteilnahme wohl Sergei Kirijenko initiiert hatte. Einst Premierminister unter Boris Jelzin, ist Kirijenko nun seit Jahren im Präsidialapparat für die russische Innenpolitik verantwortlich. Im Gesamtergebnis landete Dawankow abgeschlagen auf dem dritten Platz mit weniger als vier Prozent der Stimmen.

Nicht aber dort, wo viele Russ:innen leben, die nach Kriegsbeginn das Land verlassen haben: etwa in Kasachstan, Vietnam oder Barcelona. Dort unterlag Putin Dawankow, teils sogar haushoch.

In anderen russischen Auslandsvertretungen, zum Beispiel in London, fanden sich in den Wahlurnen über ein Fünftel ungültige Wahlzettel: Das sind deutliche Stimmen gegen sämtliche vier Kandidaten. In Deutschland und der Schweiz wiederum hat Putin gewonnen. Auch in Europa leben russische Putin-Fans und Nutzniesser:innen des Regimes – doch sagenhafte Ergebnisse lassen sich dort nicht erzielen.