Krieg gegen die Ukraine: Ein Leben wie eingefroren

Nr. 12 –

Zwei Jahre nach Kriegsbeginn könnte die Mobilmachung in der Ukraine verschärft werden. Mittlerweile scheint die gesellschaftliche Kluft zwischen denen, die kämpfen, und jenen, die noch nie an der Front waren, immer grösser zu werden.

ein Rekrutierungsplakat für die Armee in Kyjiw
Fast wie Werbung für einen Zombiefilm: Die Rekrutierungsplakate für die Armee sind in Kyjiw mittlerweile unübersehbar.

Die Häuser eine Autostunde nordwestlich von Kyjiw wurden gleich nach Kriegsausbruch zerstört. Zwischen den zerfallenen Mauern wuchern nun junge Bäume und Büsche. Eigentlich liegt der Krieg in dieser Gegend bereits zwei Jahre zurück. Doch an diesem Tag im Februar wird hier, unweit der Ortschaft Hostomel, wieder gekämpft: An die siebzig Männer und Frauen in Uniform trainieren den Häuserkampf. Aufgeteilt in zwei Gruppen, verstecken sich die Teilnehmenden hinter Mauern, liegen flach auf dem Boden und versuchen, ihre Gegner:innen mit Luftdruckgewehren zu treffen. Vorbereitung auf den Ernstfall.

Gekommen sind Menschen wie der 21-jährige Yelysei, die sich ein Bild vom Fronteinsatz machen wollen oder bereits mit dem Gedanken spielen, einzurücken. Das Training sei für ihn weit mehr als ein Spiel, sagt Yelysei, der seinen Nachnamen nicht in der Zeitung lesen möchte. «Ich bin hier, weil ich meine körperlichen und mentalen Fähigkeiten verbessern und mich auf mein zukünftiges Leben vorbereiten will.» In der Hand hält er einen Behälter mit weissen Plastikkügelchen. Nach der ersten Runde lädt er das Luftdruckgewehr erneut. Einer der Trainer der ukrainischen Freiwilligenarmee, die den Kurs organisiert, erklärt in den Pausen die Taktik für den nächsten Angriff. Der 31-jährige Soldat mit dem Rufnamen Kast zeigt auf eine militärische Landkarte, die vor ihm auf dem Boden liegt. «Die Teilnehmenden hier können trainieren, lernen. Wenn sie an der Front sind, werden sie die Zeit dafür nicht mehr haben», sagt Kast. Das Wichtigste sei, dass sie verstünden, dass sie an der Front keine zweite Chance bekämen.

27 neue Rekrutierungszentren

Die militärische Niederlage rund um die umkämpfte Stadt Awdijiwka im Donbas Mitte Februar, bei der die ukrainischen Truppen wohl hohe Verluste erlitten haben, war ein Schlag für das Land. Auch der seit Monaten thematisierte Munitionsmangel drückt auf die Stimmung. Mehr denn je liegt auf der Hand, dass die Ukraine zusätzliche Soldat:innen benötigt. Präsident Wolodimir Selenski sprach bereits im Dezember von 450 000 bis 500 000 Menschen. Doch die Entscheidung bezüglich einer erneuten Mobilmachung müsse aus mehreren Gründen sorgfältig getroffen werden – auch weil das Vorhaben den Staat 500 Milliarden Griwna kosten würde, umgerechnet etwa 11,6 Milliarden Franken.

Die ukrainischen Sicherheits- und Verteidigungskräfte müssten aufgestockt werden, teilt auch das Verteidigungsministerium auf Anfrage der WOZ mit. Doch bei den von Selenski genannten Zahlen handle es sich um Schätzungen, die je nach Situation auf dem Schlachtfeld angepasst würden. Bis Mitte Jahr sollen nun 27 neue Rekrutierungszentren eröffnen. Als Vorbild dient dabei ein bereits bestehendes Zentrum in der westukrainischen Stadt Lwiw, dessen Mitarbeiter:innen nicht dem Militär angehören, wie das Verteidigungsministerium betont. Die neuen Zentren sollen wie eine Art Jobcenter über freie Stellen informieren und Beratungen anbieten. Man bemühe sich um mehr Transparenz, heisst es weiter – und Transparenz sei mittlerweile dringend notwendig, erklärt Taras Mokliak.

Zivilist:innen in Uniform bereiten sich Mitte Februar in der Nähe von Kyjiw auf einen Fronteinsatz vor
«An der Front gibt es keine zweite Chance»: Zivilist:innen in Uniform bereiten sich Mitte Februar in der Nähe von Kyjiw darauf vor, dass sie bald eingezogen werden könnten.

Der in Kyjiw lebende Militärexperte ist unter anderem für die ukrainische Nachrichtenagentur Guildhall tätig. «Leider hat die Regierung in den zwei Jahren der gross angelegten Invasion der ukrainischen Gesellschaft keine Vision davon vermittelt, für welche Art von Ukraine wir kämpfen», sagt Mokliak. Bald könnte eine Gesetzesänderung dazu führen, dass das Mindestalter, ab dem Ukrainer:innen in den Kampf geschickt werden, von 27 auf 25 Jahre herabgesetzt wird und Strafen für Wehrdienstverweigerer erhöht werden. Doch eine transparente Kommunikationsstrategie vonseiten der Regierung dazu, was all das für die Bevölkerung konkret bedeute, sei noch immer nicht zu beobachten. Die Prämisse laute nach wie vor, dass man sich aufgrund des Krieges nicht in die Karten schauen lassen könne. Die Regierung zieht noch immer die Kommunikation über den in der Kritik stehenden «Telemarathon» vor: die Zusammenfassung der grösseren Fernsehkanäle in ein einheitliches Programm, das mittlerweile als eine Art Regierungsplattform fungiert. «Die Menschen sehen zwar die Probleme mit der Korruption, sie sehen, was in Awdijiwka passiert ist, sehen die Mobilisierungskampagne mit all ihren Problemen. Aber sie haben kein Bild von der zukünftigen Ukraine», kritisiert Mokliak.

Müde von der Ungewissheit

Die Mobilisierungskampagne ist gerade in Kyjiw unübersehbar. Überall hängen mittlerweile Rekrutierungsplakate für die Armee. Besonders eines sticht hervor, das heroische ukrainische Soldaten zeigt, die – fast wie auf einem Filmplakat – «Orks» bekämpfen, wie die russischen Soldaten hierzulande genannt werden. In einem Kaffeehaus in der hektischen Einkaufsstrasse im Stadtzentrum sitzt Offizier Andri Katschor in Uniform. Um ihn herum bestellen die Besucher:innen Tee und Cappuccino, aus den Boxen dröhnt Elektropop. Er selbst bleibt bei einem Glas Wasser. Seit März 2022 kämpft der 38-Jährige in der Armee, davor war er als Journalist in Winnyzja in der Westukraine tätig. «Für viele von uns ist es demotivierend, in die Städte zu kommen und diese grosse Anzahl junger gesunder Männer zu sehen, die noch nie an der Front waren», sagt er. Seit Jahresbeginn tritt er immer wieder als Sprecher an Veranstaltungen in Kyjiw und Umgebung auf, bei denen sich Interessierte über die Armee informieren können. Viele Soldat:innen seien müde, sagt Katschor. «Sie wissen nicht, wie lange sie noch an der Front bleiben müssen. Sie sind müde von der Ungewissheit.»

Die Ungewissheit darüber, wie lange der Dienst in der Armee dauern wird, ist einer der Gründe, weshalb sich viele vor der Einberufung fürchten. Manche Männer verlassen ihre Wohnungen nur noch selten. Andere informieren sich in Telegram-Gruppen darüber, bei welchen U-Bahn-Stationen oder Einkaufszentren Beamte zu sehen sind, die eventuell Einberufungsbefehle aushändigen könnten. «Ich habe viel über dieses Thema nachgedacht», sagt Katschor. «Es fällt mir schwer, eine Haltung gegenüber diesen Männern einzunehmen. Ich bin nicht wütend auf sie. Aber ich frage mich, wie jemand, der es vermieden hat zu kämpfen, jemandem später in die Augen schauen kann, der gekämpft hat.» Die Ukraine habe keine andere Wahl, als mehr Menschen in die Armee aufzunehmen, es gehe um das Überleben der Nation, so Katschor.

Marko, dessen Name hier geändert wurde, sieht das anders. Der 37-Jährige lebt in einem Vorort von Kyjiw und beschäftigt sich mit Töpferei. Bis zum Krieg gab er Kurse für Menschen, die sich künstlerisch ausdrücken wollen. «Ich möchte nicht, dass jemand in meiner Situation ist. Ich existiere nur noch, ich lebe mein Leben nicht. Mein ganzes Leben ist wie eingefroren», sagt er. Zu Beginn des Krieges habe er sich freiwillig gemeldet, doch aufgrund seiner fehlenden Vorerfahrung sei er nicht genommen worden. Nun schliesst sich der Kreis immer enger um ihn. Er sagt, dass bereits acht seiner Freunde kämpfen würden. Einige von ihnen erhielten die Vorladung in Alltagssituationen, bei der Arbeit etwa, so, wie es der derzeitige legale Rahmen vorsieht. Er wünsche sich einfach ein «normales» Leben zurück, sagt Marko.

Erschöpfung und Sorgen

Zur Angst vor der Aussicht, in einem Schützengraben an der Front zu landen, kommt die Sorge, dass ein möglicher Einsatz auf einen Dienst auf unbestimmte Zeit hinauslaufen kann. Open end sozusagen. Zwar unterzeichnete Selenski Ende Februar ein Gesetz, das nun endlich die Entlassung von Soldat:innen ermöglicht, die ihre vorgeschriebene Militärdienstzeit bereits vor Beginn der Invasion angetreten und inzwischen abgeleistet haben. Also Wehrpflichtige aus den Jahren 2019 bis 2021, deren Verträge ausgelaufen sind. Doch ein Konzept zur Demobilisierung jener Soldat:innen, die seit dem 24. Februar 2022 kämpfen, gibt es noch immer nicht. Nach Ausrufung des Kriegsrechts wurde nicht nur die Wehrpflicht, sondern auch die Demobilisierung abgeschafft.

Marko hat deshalb das Gefühl, dass es keinen Ausweg gibt, wenn man erst mal Teil der Armee ist. «Für mich fühlt sich das alles an wie eine Falle. Wenn du dort ankommst, wars das.» Jeder verstehe das. Es gebe keine Optionen, und der einzige Weg, herauszukommen, sei durch eine schwere Verletzung. «Oder indem man stirbt», sagt Marko. Vielleicht könne man auch eine Menge Geld bezahlen, um sich irgendwie freizukaufen. Er selbst hat die Entscheidung getroffen, sich nicht weiter vorzubereiten. «Ich habe das Gefühl, dass das der erste Schritt zur Teilnahme wäre, und das will ich nicht.» Er versuche, ruhig zu bleiben, sich keine Sorgen zu machen. Der Rest, so Marko, sei Schicksal.

Auf dem Trainingsgelände ausserhalb von Kyjiw legt der 21-Jährige Yelysei nach den Trainingskämpfen seine schusssichere Weste ab. Er wirkt erschöpft. «Ich wusste, dass das ein wirklich schwieriger Job ist. Aber jetzt … Die Leute, die unser Land verteidigen, sind wirklich Helden», sagt er. An diesem Tag hat das Team von Yelysei verloren. «Leute wie ich, die nicht im Krieg sind, wissen nicht, was das bedeutet. Diese Erfahrung heute ist nur ein Bruchteil davon.» Er wolle nicht kämpfen, sagt Yelysei. Aber die Realität könnte für ihn bald anders aussehen.

Währenddessen steigt die Sorge angesichts ausbleibender westlicher Hilfs- und Waffenlieferungen und einer möglichen Wiederwahl Donald Trumps in den USA. Darüber, dass die Ukraine von ihren westlichen Verbündeten abhängig ist, macht sich hierzulande niemand Illusionen. Darüber, dass sich in Russland nach dem Tod des bekanntesten Oppositionellen Alexei Nawalny etwas ändern wird oder die Angriffe gar aufhören, auch nicht.