EU-Diskussion: Neues Selbst­bewusstsein

Nr. 12 –

Der AHV-Erfolg hat die Gewerkschaften gestärkt. Das wird sich auch auf das EU-Dossier auswirken: SGB-Präsident Pierre-Yves Maillard will den Lohnschutz im Zweifel in einer Volksabstimmung verteidigen.

GB-Präsident Pierre-Yves Maillard mit weiteren Personen am AHV-Abstimmungssonntag im Hotel Bern
«Der Bundesrat nimmt den Lohnschutz noch immer zu wenig ernst»: SGB-Präsident Pierre-Yves Maillard am AHV-Abstimmungssonntag 
im Hotel Bern.
Foto: Ursula Häne

Neuer Anlauf, neues Glück: Am Montag schüttelten sich Bundespräsidentin Viola Amherd und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Brüssel die Hände. Drei Jahre nach dem Scheitern des Rahmenabkommens nehmen die Schweiz und die Europäische Union erneut Verhandlungen über ihre bilaterale Zusammenarbeit auf. Mit Elan und Engagement werde man ans Werk gehen, versprach Amherd: «Unsere Teams müssen Lösungen finden, die für beide Seiten stimmen.»

Neuer Anlauf, bekannte Probleme: Ob es zu weiteren Abkommen kommt, wird sich letztlich nicht in Brüssel entscheiden, sondern in einer Volksabstimmung in der Schweiz. Ein Referendum der SVP ist angesichts ihrer europapolitischen Fundamentalopposition so sicher wie das Amen in der Kirche. Mehrheiten für eine Öffnung und damit auch für den Erhalt der Personenfreizügigkeit gab es in der Vergangenheit jeweils nur, wenn sich die Gewerkschaften und die Wirtschaftsverbände auf eine soziale Absicherung der Verträge verständigten.

Bis anhin gab es für eine Annäherung zwischen Gewerkschaften und Verbänden keine Anzeichen. Doch nur wenige Tage bevor der Bundesrat das Verhandlungsmandat mit der EU veröffentlichte, ereignete sich Anfang März bekanntlich Historisches: Die 13. AHV-Rente wurde angenommen. Ein fulminanter Erfolg für die Gewerkschaften, eine krachende Niederlage der Wirtschaftsverbände. Wie hat sich dadurch ihr Kräfteverhältnis verändert? Und hat das allenfalls Auswirkungen auf die EU-Verhandlungen?

Veränderte Wahrnehmung

Pierre-Yves Maillard gilt seit dem Erfolg in einigen Medien als neuer Volkstribun. Selbst verweist der Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds (SGB) lieber auf eine «hervorragende Truppe» im Zentralsekretariat und auf eine griffige Kampagne «draussen im Terrain». Auf die Frage nach der Machtverschiebung durch die AHV-Abstimmung meint Maillard trocken: «Wir wollen uns nicht überschätzen. Sagen wir nur, dass wir nicht schwächer geworden sind.»

Das deutliche Resultat habe zuerst einmal Folgen für die Diskussionen um die Altersvorsorge. Ein Abbau der Leistungen oder eine Erhöhung des Rentenalters seien damit auf Jahre hinaus vom Tisch, ist Maillard überzeugt. «Beides sind zentrale Elemente der liberalen Agenda.» Doch das Resultat dürfte auch auf andere Themenfelder ausstrahlen, insbesondere auf die EU-Verhandlungen. «Hätten wir bei der AHV verloren, dann wären die Kommentare in den Medien erwartbar gewesen: Vorwärts ohne die Gewerkschaften!»

Stattdessen verfügen diese über neues Selbstvertrauen – und bringen es auch zum Ausdruck: In einem Brief an den Bundesrat kritisierten die Gewerkschaften das Verhandlungsmandat mit der EU scharf. «Besonders stören wir uns daran, dass der Bundesrat die EU-Spesenregelung nicht explizit von den Gesprächen ausgenommen hat», sagt Maillard. Diese würde es Firmen aus dem EU-Raum erlauben, Schweizer Firmen deutlich zu unterbieten. Weitere Kritikpunkte sind die geplanten Liberalisierungsschritte auf dem Strommarkt und neuerdings im Bahnverkehr.

«Der Bundesrat und seine Botschafter:innen nehmen den Lohnschutz noch immer zu wenig ernst», sagt Maillard. Der bisher einzige zählbare Erfolg in den Vorgesprächen zwischen der Schweiz und der EU sei eine «non-regression clause» – also eine Absicherung, dass der Status quo beim Lohnschutz erhalten bleiben soll. «Erreicht hat diese Klausel allerdings nicht der Bundesrat, das waren die Sozialpartner:innen im direkten Austausch mit EU-Vize Maroš Šefčovič.»

Um endlich Gehör bei der Regierung zu finden, verlangen die Gewerkschaften in ihrem Brief deshalb eine Aussprache. Andernfalls, so droht Maillard, würden sie die innenpolitischen Gespräche über flankierende Massnahmen zu neuen Abkommen sistieren. Mit ihrer Kritik stossen die Gewerkschaften neuerdings sogar in der NZZ auf Verständnis – auch das zeugt von einer veränderten Wahrnehmung der Kräfteverhältnisse. Wie aber sieht man all das beim Arbeitgeberverband, der bei den Wirtschaftsverbänden im EU-Dossier die Federführung hat?

Kompromisse? Fehlanzeige

Nach einem Wechsel an der Spitze im letzten Sommer gibt es dort zumindest einen neuen Ansprechpartner: Auf den oft erratisch wirkenden Valentin Vogt folgte Severin Moser. Der Versicherungsmanager war in einem früheren Leben olympischer Zehnkämpfer. Auf die AHV-Abstimmung angesprochen, gibt er nur eine Runde verloren, aber noch nicht den ganzen Wettkampf: «Ausschlaggebend für die Zustimmung auch bei einem Teil der Bürgerlichen war der Anstieg der Inflation innert kurzer Frist», lautet seine erste Analyse. Um von einer sozialpolitischen Zeitenwende zu sprechen, müsste sich das Ergebnis aber erst einmal bestätigen, bei den noch in diesem Jahr folgenden Abstimmungen über die Krankenkasseninitiativen oder über die Revision der zweiten Säule. Auf Themen fern der Sozialversicherungen wie etwa die EU-Verhandlungen dürfte das AHV-Resultat kaum Auswirkungen haben, meint Moser. «Die Gewerkschaften werden bei dieser Frage weiterhin lautstark ihre Punkte bringen. Aber das hätten sie auch bei einer Niederlage getan.»

Sechzehn Vorschläge hat der Gewerkschaftsbund den Arbeitgeber:innen zur Verbesserung des Lohnschutzes präsentiert. «Doch sie sind bisher leider höchstens auf technische Details eingetreten», sagt Gewerkschaftschef Maillard. Um das Lohndumping durch Entsendefirmen aus dem EU-Raum zu unterbinden, wäre es für die Gewerkschaften am wirkungsvollsten, wenn die Gesamtarbeitsverträge für alle Unternehmen in einer Branche einfacher verbindlich erklärt würden: Diese legen jeweils die Mindestlöhne fest, die nicht unterboten werden dürfen. Arbeitgeberpräsident Moser will auf diese Forderung weiterhin nicht eintreten: «Im Bau und im Baunebengewerbe, die von der Entsendearbeit besonders betroffen sind, gibt es ja bereits Gesamtarbeitsverträge.»

Moser betont, dass man auch seitens der Arbeitgeber für den Erhalt des bisherigen Lohnschutzniveaus eintrete. «Wir bieten aber nicht Hand zu einem Ausbau, der zulasten eines flexiblen Arbeitsmarktes geht.» Was die Verhandlungen mit der EU betrifft, zeigt sich der Arbeitgeberpräsident zuversichtlich: «Über alles betrachtet, werden wir zu ähnlichen Lösungen kommen, wie sie heute gelten.»

Die Einschätzung der Lage geht zwischen den Gewerkschaften und den Wirtschaftsverbänden also weit auseinander. Mit Wirtschaftsminister Guy Parmelin müsste nun ausgerechnet jener Mann vermitteln, der sich in der Diskussion um den Lohnschutz seit Jahren auffällig rarmacht. Wohl wissend, dass jede Einigung zwischen den Sozialpartner:innen die Position seiner eigenen SVP schwächt. Maillard will deshalb über die kommenden Abstimmungen den Druck erhöhen: «Es ist klar geworden, dass Abstimmungen nötiger geworden sind, um sich für faire Löhne und gegen Kaufkraftverluste einzusetzen.» Falls die ausgehandelten EU-Abkommen den Lohnschutz nicht erfüllen, ist für Maillard die letzte Konsequenz klar: «Dann werden wir auch sie in einer Abstimmung bekämpfen.»