Stephan pörtner: «Fremder Freund»: Die meisten Facebook-Freunde sieht man im richtigen Leben nie. Ein paar trifft man im Ausgang. Das Dumme ist, dass ich immer erschrecke, wenn ich plötzlich jemanden leibhaftig vor mir habe.

Nr. 51 –

Sogenannte «soziale Netzwerke» haben so grundlegende Begriffe wie «Freundschaft» revolutioniert. Und plötzlich wird man in eine Realität gezogen, mit der man eigentlich gar nichts zu tun hat … Eine Krimierzählung aus dem Facebook-Zeitalter.

Wenn es morgens um sieben an der Tür schellt, bedeutet das nichts Gutes.

Wenn zwei Männer mit ernsten Gesichtern vor der Tür stehen und einen mit «Herr Jakob Robert, wir sind von der Stadtpolizei, dürfen wir hereinkommen?» begrüssen, bedeutet das, dass man besser nicht aufgestanden wäre.

Was ich ja auch versucht habe. Das erste Klingeln riss mich aus dem Schlaf. Schlechtes Erwachen. Denn noch vor den Gedanken meldet sich das limbische System. Das ist der Urinstinkt, der uns im heutigen Leben so gar nix mehr nützt und der sagt: Fliehen oder Angreifen, das habe ich in einer Wissenschaftssendung auf DRS 2 gehört. Mein Körper aber versteifte sich. Erst dann kam der beruhigende Gedanke: Du hast nur geträumt! Aber knapp bevor ich dem Selbstbetrug aufsitzen konnte, das zweite Läuten. Da wusste ich, dass ich verloren hatte. Trotzdem versuchte ich mich nochmals zu betrügen: Es ist die Post. Ein Eingeschriebener, eine Mahnung. Die Post klingelt zweimal, natürlich weiss ich das, sogar oder gerade wenn ich erst zwanzig Sekunden wach bin.

Das dritte Klingeln war etwas länger, etwas dringlicher. Es war klar: Hier klingelt ein Profi. Perfekte Länge und Schrille, die auch den hartnäckigsten Verdränger aufscheucht. Obwohl die Klingel ja immer gleich klingen sollte, von der Schrille 
her, würde man denken. Tut sie aber nicht.

Also, aufgestanden, Trainerjacke angezogen, zur Tür geschlurft, Tür aufgemacht – und gemerkt, dass es ein Fehler war.

Es war nicht wirklich eine Frage, das mit dem Hereinkommen, denn sie standen schon im Gang, bevor ich irgendetwas sagen konnte.

Ich bat sie in die Küche. In die Küche, die unaufgeräumt war. 
Die Polizisten sagten nichts, aber der jüngere, der etwa dreissig war, schaute sich einen Moment um und sah mich dann kurz 
an, und sein Blick sagte: «Meinen Sie, mir macht es Spass, morgens um sieben in solchen Bruchbuden herumzustehen, meinen Sie, ich wolle so genau wissen, wie es bei den Leuten zu Hause aussieht, wie viel Dreck und Elend es gibt in dieser Stadt, oder auch nur Schlampigkeit, so wie bei Ihnen, meinen Sie, das macht Spass, meinen Sie, es sei einfach, die Arbeitsmoral aufrechtzuerhalten, wenn man sieht, für wen man eigentlich arbeitet, was für ein verkommenes Subjekt er ist, der mündige Bürger, für dessen Ruhe und Sicherheit wir den Kopf hinhalten, meinen Sie das wirklich?»

So eine Frage in einen Blick zu packen, der nur einen Sekundenbruchteil dauert, das lernt man nicht von einem Tag auf den anderen. Das braucht Übung, jahrelange.

Der ältere Polizist bat mich Platz zu nehmen, ich räumte den Küchentisch einigermassen frei und fragte, ob sie einen Kaffee wollten. Sie wollten nicht, aber ich wollte. Meine Kaffeemaschine, die kann sich sehen lassen. Die ist seriös. Schweizer Qualität, da steht sogar Roger Federer dahinter, und Roger Federer ist der einzige Schweizer, den man im Ausland kennt, und wenn der ein wichtiges Match hat, dann schauen selbst Leute zu, von denen ich das nicht gedacht hätte, die sonst ihre Zeit mit dem Tropfenzähler abmessen, so beschäftigt und gefragt sind sie, aber stundenlang Federer gucken, das dann schon, denn nicht nur das Sportschauen ist eine gesellschaftlich anerkannte Form der Freizeitvertilgung, nein, sogar die Extremform davon, das Fantum, das Fansein ist weitverbreitet mit all den Auswüchsen, vor denen es einem eigentlich graust. Von was die Leute alles Fan sind, ich komm da schon lang nicht mehr mit, weil mir so Sachen je länger, je mehr am Arsch vorbeigehen. Doch ich bin ja auch kein Vorbild und kein Massstab, das kann jeder sehen, ein Blick in die Küche genügt. Die Kaffeemaschine hingegen, die ist tipptopp und ein echtes Winnerteil.

Ich schaltete sie ein. Sie begann mit diesem beruhigenden, präzisen Geräusch einer durchdachten und funktionierenden Mechanik zu arbeiten. Der ältere Polizist sah mich an.

«Kennen Sie einen Vinzent Schneider?», fragte er.

Ich wusch mir im Schüttstein eine Tasse ab, damit schon ein dreckiger Gegenstand weniger herumstand, trocknete sie mit einem Schmuddeltuch ab und liess mir einen Kaffee einlaufen.

Kannte ich einen Vinzent Schneider? Das war eine gute Frage. Ich hatte sie mir in letzter Zeit ein paarmal gestellt.

Als ich ihn etwa zwei Wochen zuvor getroffen hatte, zum Beispiel.

Wir hatten uns in einem Café am Stadelhofen verabredet. Am Stadelhofen macht man in Zürich ab, wenn man nicht recht weiss, was einen erwartet, und nichts von sich preisgeben will. Der Stadelhofen ist eine neutrale Zone und doch nicht so anonym wie der Hauptbahnhof.

Angefangen hatte alles mit einer Nachricht auf Facebook. Die ich lange nicht gesehen habe, weil ich nicht oft auf Facebook bin, wieso auch, ich hab mal, auf Anregung von einem Freund, der in Spanien lebt, ein Profil erstellt, ein paar Bekannte zusammengesammelt, die Freunde heissen, aber natürlich keine sind, weil meine Freunde … um Himmels willen, wo die hingekommen sind, das wüsste ich manchmal auch gern.

Die meisten Facebook-Freunde sieht man im richtigen Leben nie. Ein paar trifft man im Ausgang, und das Dumme dabei ist, dass ich jedes Mal erschrecke, wenn ich plötzlich jemanden leibhaftig vor mir habe, den ich sonst nur noch auf Facebook sehe, weil auf Facebook sehen alle besser und jünger aus als im richtigen Leben. Darum dieser kurze Schreck, grad wenn es schon spät ist und man schon etwas getrunken hat. Dieser erste Gedanke: Wie sieht der oder die denn aus, was ist denn da passiert? Bis klar wird, das ist ein ganz normales, alterskonformes Aussehen, weil die wenigsten Leute, die ich kenne, sich auch real photoshoppen, will sagen Schönheitschirurgie in Anspruch nehmen oder dann nur so ein bisschen, weil das ist ja die Krux mit der Schönheitschirurgie, wenn man es nicht sieht, ist es schade ums Geld, und wenn man es sieht, erst recht, weil ein gelifteter alter Mensch nicht aussieht wie ein junger Mensch, sondern wie ein gelifteter alter Mensch.

Aber das war nicht das Problem, warum ich den Vinzent Schneider nicht erkannte, weil er sah ungefähr so aus wie auf den Fotos im Internet, aber ich hatte ihn schon da nicht erkannt.

Er hatte mir diese Nachricht geschickt:

«Salü Köbi, lange Zeit nichts mehr gehört, geht es dir gut? Wir sind zusammen in die sechste Klasse gegangen, weisst du noch?»

Ich wusste es nicht und log:

«Ja schön, klar, sehr gut und wie gehts dir?»

So etwa schrieb ich zurück und akzeptierte die Freundschaftsanfrage, denn meistens läuft das so, dass man dreimal hin- und hermailt, gemeinsame Bekannte erwähnt und dann nie mehr etwas hört, abgesehen von den Musikvideos, die die Person ins Netz stellt. Es sei denn, sie gehört zu der Kategorie der Durchgeknallten, die einen sogleich mit feurigen Nachrichten zu allem und jedem, mit Ein- und Ausfällen der kruderen Art bombardieren, bis man die Einstellungen ändert und ihre Nachrichten nicht mehr sieht oder sich entfreundet. Es gibt erstaunlich viel von denen, oder dann hab ich viele Leute gekannt, die einen Hang zum Durchknallen hatten, oder sie waren früher schon durchgeknallt, und ich hab das einfach nicht gemerkt, das kann auch sein.

Dann gibt es die Leute, mit denen man einmal abmacht, über diese und jenen plaudert, über sich selbst, und ich muss sagen, dass ich das ganz gerne mache. Früher war mir das immer peinlich. Ich war halt immer der Versager. Aber für Versager ist das Älterwerden etwas Praktisches. Die anderen holen auf. Oder besser gesagt, sie fallen zurück. Ende zwanzig war ich der Einzige, der gescheitert war oder zumindest als gescheitert angesehen wurde, mit meinem Scheissjob, meiner Scheisswohnung und meiner Freundin, die noch nie jemand gesehen hatte. Ich wurde meiner Lebtag nie an ein Klassentreffen eingeladen. Früher glaubte einem ja niemand, dass man es extra gemacht hat, dass einen der ganze Karriere- und Familienmüll einfach nicht interessiert hat, weil man geahnt hat, wo das hinführt.

Aber wenns gegen die fünfzig geht: geschieden, gefeuert, verspekuliert, vorbestraft, angeschlagen. Sehen auch nicht besser aus, haben auch nicht mehr erreicht, wohnen auch nicht schöner, haben auch kein Geld, dafür einen Ranzen, trinken auch zu viel. Willkommen in meiner Welt.

Gut, das ist wahrscheinlich einseitig, denn es melden sich ja nur die, die nichts Gescheiteres zu tun haben. Wer es geschafft hat, wer ein erfülltes Leben führt, der sucht nicht im Internet nach alten Bekannten und gescheiterten Existenzen.

Vinzent Schneider machte einen ganz anständigen Eindruck. Doch, doch. Aber ich hörte ihm nicht recht zu, denn ich konnte mich einfach ums Verroden nicht an ihn erinnern. Das kommt selten vor. Natürlich, das Kurzzeitgedächtnis ist schon lange dahin. Mit wem ich vorgestern zu lange verhockt bin, wen ich gestern im Coop getroffen habe: keine Ahnung. Aber das Langzeitgedächtnis, dem hat nicht mal der übermässige Ecstasy-Konsum in den Neunzigern etwas anhaben können, den ich für allerlei sonstige Löcher im zentralen Nervenkostüm verantwortlich mache.

Vinzent Schneider hatte ein Klassenfoto dabei. Dreiundzwanzig schlecht gekleidete Heranwachsende in linkischer Haltung auf einem trostlosen Pausenplatz. Ich muss zugeben, dass nicht nur Vinzent eine Lücke war. Auch drei von vier blonden Mädchen konnte ich nicht mehr einordnen. Aber dass man gewisse Menschentypen nicht richtig wahrnimmt, das ist genetisch bedingt oder antrainiert, ich weiss jetzt nicht mehr genau, welches von beiden, ich hab darüber eine Sendung auf 3Sat gesehen, auf alle Fälle kann man nichts dafür.

Bei den anderen: Alles klar. Die Lehrerin, das strenge sechzigjährige Fräulein Altenhofer, ja damals sagte man, musste man noch Fräulein sagen.

Der Metzgertoni, der dicke Sandro, die Kämpf-Zwillinge und so weiter und so fort, ich konnte sie alle abrufen. Aber der Schneider Vinzent? Fehlanzeige. Dabei steht er direkt hinter mir. Wie ich da noch in die Kamera grinse, voller kindlicher Zuversicht, da könnte man schon fast nachdenklich werden, wenn man glaubte, das bringe etwas.

Auf alle Fälle hatten die Gespräche über das Fräulein Altenhofer, den Metzgertoni, den dicken Sandro und die Kämpf-Zwillinge kein Licht ins Dunkel meiner Erinnerung gebracht. Der Vinzent Schneider, das war ein netter Kerl, mit dem ich mich gut unterhalten konnte, aber ich erinnerte mich ganz einfach nicht an ihn. Nachdem wir uns verabschiedet hatten, telefonierten wir noch ein, zwei Mal: War nett, machen wir wieder einmal. Eine Mail, ob man Zeit hätte nächste Woche. Ein SMS, dass man nicht hat, obwohl man eigentlich gehabt hätte. Das wars dann. Dachte ich.

«Nicht wirklich», sagte ich zu dem älteren Polizisten, der mich gefragt hatte, ob ich Vinzent Schneider kenne. «Was ist mit ihm?»

«Er ist tot.»

«Oha.»

«Er wurde mit gebrochenem Genick in seiner Wohnung gefunden.»

«Wurde er umgebracht?»

Der ältere Polizist seufzte. «Das wissen wir noch nicht. Wir wissen ja nichts über ihn. Sie sollen uns helfen. Erzählen Sie uns von ihm.»

«Ich weiss nichts, ich kannte ihn kaum», ich trank einen Schluck Kaffee. Er war gut.

Der junge Polizist beugte sich zu mir herüber. «Sie waren einer seiner wenigen Freunde.»

«Ich war kein Freund.»

«Sie sind es auf Facebook.»

«Das heisst nicht viel.»

«Sie waren auf seinem iPhone auf der Favoritenliste. Er hat Sie angerufen und Ihnen SMS geschickt, Sie haben sich gemailt, unsere Spezialisten sind die Daten am Auswerten.»

«Ich hab ihn aber wirklich nicht gekannt.»

«Ich glaube, Sie kommen besser mit, wir brauchen Ihre Aussage.»

«Bin ich verdächtig?»

Der jüngere Polizist warf mir einen Blick zu. «Verdächtig? Schuldig sind Sie! Vielleicht haben Sie Ihren alten Freund umgelegt, vielleicht auch nicht. Wenn ich diese Bude auf den Kopf stellen würde, wenn ich Sie an den Fussknöcheln aufheben und kräftig schütteln würde, dann würde ich herausfinden, dass Sie sich schuldig gemacht haben. Das ist bei allen so. Drogen genommen, Steuern hinterzogen, Versicherung betrogen, besoffen gefahren, illegal runtergeladen, tun Sie doch nicht so, alle haben Dreck am Stecken, und natürlich trau ich Ihnen zu, einen Menschen zu töten, was glauben Sie denn?», sagte sein Blick. Der Junge war gut.

Ich trank meinen Kaffee, zog mich an und ging mit.

Die beiden Polizisten liessen mich auf dem Gang warten, bei der Kripo an der Zeughausstrasse. Leute kamen und gingen. Ein junger Mann tobte. Ein älterer wurde in Handschellen in den oberen Stock gebracht. Ein Polizist machte einen Witz.

Ich wartete und überlegte mir, wie einsam Vinzent Schneider gewesen sein musste, wenn er mich auf seine Favoritenliste genommen hatte, obwohl wir uns nur einmal getroffen hatten.

Endlich kamen sie mich holen und brachten mich in ein kleines Zimmer. Sie nahmen meine Aussage auf.

«Sie können doch nicht einfach behaupten, den Mann nicht gekannt zu haben.» Der jüngere legte einen Ausdruck vor mich. Der Ausdruck hatte feine Querstreifen, die Polizei musste sparen, also wurden die Toner runtergefahren, gnadenlos. Aufgelistet waren all meine SMS, Telefonanrufe und E-Mails sowie die von Vinzent an mich.

Ich versuchte zu argumentieren, dass der ganze Verkehr innert drei Wochen stattgefunden habe.

«Die älteren Sachen löscht man eben», sagte der jüngere Polizist, «meist geht das automatisch.»

«Bei mir nicht», sagte ich.

«Wo waren Sie gestern Abend zwischen sieben und acht?»

«Zu Hause.»

«Was haben Sie gemacht?»

«Ferngesehen.»

«Welchen Sender?»

«Den Schweizer, glaub.»

«Was kam denn?»

«Kein Match von Roger Federer.»

«Auf dem Zwei schon. Was aber haben Sie geschaut?»

«So … Dings.» Verdammt. Das Kurzzeitgedächtnis. Es bockte. Da war doch etwas gewesen. Aber was? Es fiel mir ein. «Nachrichten», sagte ich, weil die kamen doch um die Zeit.

«Sie meinen wohl, Sie seien ein ganz Schlauer, aber das meinen alle, wenn ihnen die erste Lüge einfällt, und dass Sie lügen, das sieht ein Einäugiger, der die Augenklappe auf der falschen Seite trägt, und grinsen Sie nur erleichtert, in Wirklichkeit haben Sie grad den ersten Spatenstich zu ihrem Grab getan, und ich wäre froh, Sie würden einfach die Wahrheit sagen, aber das tut ja keiner mehr, alle meinen, sie seien schlau und wir blöd, und wissen Sie, wie anstrengend das ist, Tag für Tag?», sagte der Blick des jüngeren Polizisten.

«Was wurde denn berichtet?», fragte der ältere.

Gute Frage. Ich wusste unterdessen zwar, dass ich tatsächlich die Tagesschau geschaut hatte, mehr aber auch nicht. «Hm, Eurokrise, Aufstand in ähm, Dings, Libyen, Syrien, so die Richtung, nicht? Und irgendwer hat irgendwo die Wahlen gewonnen. Oder verloren? Aber es ging nicht mit rechten Dingen zu. Oder war das bei uns? Es wurde auch etwas gewählt bei uns, ja genau, der Bundesrat, ein Welscher oder eine Bündnerin und irgendwer hat sich verrechnet oder so etwas.»

Der ältere Polizist lächelte beinahe und schüttelte ganz langsam den Kopf.

«Und dann kam das Wetter!», versuchte ich mich herauszuwinden.

«Wie wird es denn, das Wetter?»

Mist, der Polizist hatte recht. Ich sass in der Falle, und diesmal war es nicht das Kurzzeitgedächtnis. Es war ein wiederkehrendes Ritual, zwanghaft schon fast.

Abends denke ich oft: Warum nicht die Nachrichten schauen, wegen des Wetters, damit ich weiss, ob ich morgen das Velo benutzen kann oder aufs Tram muss, was länger dauert und andere Kleidung verlangt. Und immer, ja immer, beginnt es mich schon während der Nachrichten zu zwicken, und ich denke an alles andere, ich höre nicht zu, weil es doch immer dasselbe Elend ist und die Merkel und der Sarkozy und der Toni Brunner und die Nationalbank und die Aufstände und die Flüchtlinge und die Schulden und diese neuen Länder ständig und die Chinesen und die Amerikaner und das Klima und die Katastrophen und die Banken und die, die davor zelten und die alle super finden, obwohl niemand so genau weiss, was sie eigentlich wollen, aber immerhin wollen sie nichts von einem, verlangen von niemandem, etwas zu tun oder sich zu ändern, darum kostet es ja nichts, die gut zu finden, sodass man, sollte der Wind drehen, schon mal auf der richtigen Seite gestanden und das auch gesagt hat, das ist schon praktisch, aber das kam gar nicht, weil die hat man ja schon überall wieder verjagt, und das findet auch niemand tragisch, und weil mir das alles schnell zu viel wird, weil ich ja schon so viel Kommen und Gehen gesehen habe und die Bedeutung des Einzelnen, also des konkreten Einzelnen, also meiner selbst, für das Weltgeschehen gar nicht genug unterschätzen kann, weil komplett egal, darum schweife ich eben während der Nachrichten immer ab. Und wenn dann endlich das Wetter kommt, weswegen ich eigentlich eingeschaltet habe, dann erzählen sie zuerst, wie es auf dem Hörnli war und am Bodensee und im Jura und zeigen Bilder vom Berner Oberland, aber ich will ja nur wissen, ob es morgen schifft oder kalt wird. Also steh ich auf und gehe in die Küche, um mir etwas zu holen. Ein Bier, ein Wasser, ein paar Nüsse oder auch mal gar nichts, auch mal einfach die Kühlschranktür aufmachen und reinglotzen und diesen Zenmoment erleben, wo ich in den Kühlschrank starre und alles andere auf der Welt ausgeblendet ist. Wo ich nur das egolose, in den Kühlschrank starrende Subjekt bin, keinen Bezug zur Vergangenheit (was wollte ich eigentlich?) noch zur Zukunft (nimm dir was, und setz dich wieder), sondern einfach starren, ganz ohne Sinn und Zweck. Dann kehre ich vor den Fernseher zurück und sehe gerade noch, wie es übermorgen und die nächsten Tage wird, und sie reden und reden und reden, aber wie es morgen wird, das sagen sie nicht mehr. Immer dasselbe.

Doch diesmal hatte ich einen Vorteil, weil ich nur aus dem Fenster zu schauen brauchte, um zu wissen, was für Wetter gestern auf heute vorausgesagt geworden war.

«Sturm», sagte ich.

Der ältere Polizist brummte. Der jüngere starrte mich an, als sei ich ein offener Kühlschrank.

Eine Polizistin kam herein. Eine Strenge. In Uniform. Sie sagte etwas zu dem älteren. Er nickte. Sie ging. Er seufzte.

«Sie können gehen», sagte er.

«Warum?»

«Es war ein Haushaltunfall. Offenbar wollte er zuhinterst im Küchenkasten einen abgelaufenen Sack Chips herausfischen und ist mit den Socken auf das Küchenbüffet geklettert, ausgerutscht und zack!»

«Hätten Sie das nicht vorher abklären können?», versuchte ich mich zu empören.

«Bei einem Verbrechen zählt jede Sekunde, und wenn es aussieht, als sei jemand umgebracht worden, dann fackeln wir nicht lange, oder haben Sie etwas dagegen, wollen Sie uns etwa erklären, wie wir unseren Job zu machen haben?», sagte der jüngere, seinen Blick auf den Tisch gerichtet.

«Nein», sagte ich und ging.

Ein paar Tage später dann die Beerdigung. Ich ging hin. Schlechtes Gewissen wahrscheinlich. Es waren nicht viele Leute da. Es war tief trist. Nach der Zeremonie ging ich den Kiesweg entlang zum Ausgang des Friedhofs. Eine Hand legte sich auf meine Schulter. Ich drehte mich um. Ein Mann in meinem Alter stand vor mir.

«Salü Köbi, lange Zeit nicht mehr gesehen, geht es dir gut? Wir sind zusammen in die sechste Klasse gegangen. Mit dem Vinzent. Anton Metzger, der Metzgertoni, weisst du noch?»

«Nein», sagte ich. «Ich erinnere mich nicht. Wahrscheinlich verwechseln Sie mich.» Damit liess ich ihn stehen und machte, dass ich fortkam. Zu Hause löschte ich meinen Facebook-Account, räumte die Küche auf und entfernte alle abgelaufenen Lebensmittel aus den Kästen.

Stephan Pörtner

Stephan Pörtner (46) ist Krimiautor («Köbi der Held») und lebt in Zürich. Für die Website der WOZ schreibt er wöchentlich Geschichten, die aus exakt 100 Wörtern bestehen. Zuletzt erschien der fünfte Fall seines Ermittlers Jakob «Köbi» Robert: «Stirb, schöner Engel». Bilgerverlag. Zürich 2011. 400 Seiten. 35 Franken.