«Hundert Tage»: Gegen die falsche Scham

Nr. 15 –

In seinem Romandebüt beleuchtet Lukas Bärfuss die zwiespältige Rolle von Schweizer EntwicklungshelferInnen in Ruanda vor und während des Völkermords im Jahre 1994. Die Medien singen ihm ein Loblied. Wofür eigentlich?

Schreiben, filmen und lesen über Afrika! Ein einziges kolossales, koloniales Missverständnis - von Karen Blixens «Jenseits von Afrika» bis T. C. Boyles «Wassermusik».

Und jetzt hat sich mit Lukas Bärfuss ausgerechnet ein Schweizer einen grossen afrikanischen Stoff angeeignet: den Völkermord von 1994 in Ruanda, der ehemaligen «Schweiz Afrikas». Angeeignet heisst erstens: Er hat zwei Jahre recherchiert. Und zweitens: den Stoff für den eigenen künstlerischen Gebrauch geformt und zurechtgestutzt. Er hat sich die Freiheit genommen, das afrikanische Thema zu einem schweizerischen Missverständnis zu machen. Der Roman gibt ihm recht.

Doppelt distanziert

Es ist die Sprache, durch die die Untiefen des Missverstehens ans Licht kommen. Nur schon die exzentrischen Bemühungen um blumige, vielleicht an örtliche Sprachgewohnheiten sich anbiedernde Vergleiche misslingen programmatisch: «als schlucke man einen abgebrannten Pferdestall». Und: «Alles, was wir nicht verstanden, verstanden wir nur deshalb nicht, weil keiner von uns ihre Sprache verstand. Wir glaubten nicht, dass sich die Mühe des Lernens lohnte, dass diese Sprache irgendein Geheimnis bewahrte, etwas, das man verstehen musste, um hinter die Maske dieses Landes zu blicken.»

Die Bezeichnung «unverständliches Bantuidiom», wie diese Sprache vom Erzähler David Hohl immer wieder genannt wird, verrät bereits die ganze Wahrheit über die Haltung der schweizerischen EntwicklungshelferInnen in Ruanda. Ein sowohl technischer wie auch despektierlicher Begriff, der auf die doppelte Distanzierung hinweist, die alle gut gemeinte Leidenschaft für Afrika, allen persönlichen Einsatz von Anfang an unterminiert.

Institutionalisiert ist diese Ignoranz in der Direktion für Entwicklungszusammenarbeit, in deren Auftrag David Hohl nach Ruanda reist; genauer gesagt im sakralisierten Infrastrukturalismus. In seinem Namen baut man Strassen und Schulen, ohne zu fragen für wen und wozu. Beleidigt und gekränkt aber macht man sich aus dem Staub, wenn es für die Falschen war. Und eigentlich nur gut abgeschaut, nicht hinterhältig, ist das immergleiche, kontextlose Lächeln der begünstigten Hutu, diesen späteren Mordgesellen im Nebenberuf. Es ist nur ihre adäquate Antwort auf das unverbindlich Allgemeine der schweizerischen Entwicklungsdoktrin - nicht Fassade, nicht Falschheit, nichts anderes als die afrikanische Variante der schweizerischen Rechtschaffenheit, gut gemeint, folgenlos, schuldlos.

Wie TouristInnen

Denn das Schlimmste ist, dass die EntwicklungshelferInnen für nichts einstehen, nie konsequent und mit solidarischer Haftung in einer Sache drinhängen. Sie verschanzen sich hinter Professionalisierungsphrasen, pfeifen den Neuling zurück, der seinen brachliegenden Garten seiner Haushälterin zum Gemüseanbau überlässt, und versehen ihn stattdessen mit zusätzlichen Privilegien. Sie stossen jenen aus der Entwicklungsgemeinde aus, dessen Geniessen im Herzen Afrikas sich nicht darauf beschränkt, Gesteine und Erze zu sammeln oder ein unverbindliches Lächeln als Lächeln der Dankbarkeit zu missdeuten, sondern der sich sexuelles Begehren erlaubt und sich in einheimischen Nachtclubs vergnügt.

Das Schlimmste ist, dass sie sich nirgends hineinknien und sich mit niemandem gemeinmachen, dass sie alle heimatlos sind, weil sie dort, wo sie leben, bis zum Schluss keine FreundInnen haben. Nicht anders als die Touristen und Zweitwohnungsbesitzerinnen, nicht anders als die MigrantInnen der sogenannten Parallelgesellschaft, nur schändlicher, gemessen am Auftrag, den sie sich selbst gaben, diese SchweizerInnen.

Und wenn sie doch einmal bleiben, wie der junge David Hohl, rennen sie mit hocherhobenem rotem Pass durch die Strassen. Sie sind im Zweifelsfall eben SchweizerInnen und keine schmutzigen BelgierInnen. Noch unter den übelsten Mörderbanden, den braven «Arbeitern am Völkermord», so die letzte und übelste Groteske im Roman, sind sie sicher.

Das Recht auf Erklärungen

Diese Neutralität! Dramatisch geschickt spitzt der bislang vor allem als Theaterautor erfolgreiche Bärfuss die Folgen jenes hohlen Pathos auf schweizerische Charaktere zu, mit dem bereits Aimé Césaire den europäischen Afrikahelden, Friedensnobelpreisträger und Uno-Generalsekretär Dag Hammarskjöld verspottet hat. Im Theaterstück «Im Kongo» (1966) sagt Hammarskjöld zu Patrice Lumumba, der grossen politischen Hoffnung des unabhängigen Afrikas: «Ich gestatte niemandem, die Ehrenhaftigkeit und Unparteilichkeit meiner Mitarbeiter in Zweifel zu ziehen. Ich als Neutraler bin nur von Neutralen umgeben, die das internationale Interesse vor jede Überlegung stellen, die sich etwa aus ihrer nationalen Zugehörigkeit ergeben könnte. (...) Monsieur Lumumba, eins habe ich sehr früh gelernt: Ja sagen zum Schicksal, was immer auch geschieht.»

Das Jasagen zum Schicksal kommentiert Hohl geradezu biblisch: «Sie verliessen die brennende Stadt, ohne sich noch einmal umzudrehen.»

Gegen dieses Schicksal, ein Komplize der humanitären Neutralität und des Sich-schadlos-Haltens zu sein, lehnt sich der Erzähler David Hohl auf und sucht Erklärungen für das Schreckliche. Er ergeht sich in zahllosen Tiermetaphern, spricht von der Symbiose des Helfenwollens der einen mit dem Verbrechen der anderen und verwirft das Sinken der Kaffeepreise als hinreichenden Grund. Kurzum: Die Analyse ist schwankend und unentschieden, als solche nochmals Kritik am Schweiztum des David Hohl.

Und zuverlässig gibts in den Rezensionen (wie etwa im «Tages-Anzeiger») Lob dafür, dass der Autor keine Lösungen anbietet, sich dem sogenannt Unerklärlichen gegenüber nicht festlegt. Aber das ist ein Missverständnis. Es widerruft, wofür der Roman sonst zu Recht gelobt wird, dafür nämlich, dass er politisch ist. Diesem Anspruch wird man ausserhalb einer literaturkritischen Neutralität gerecht werden müssen, die nur formal eintritt, die das Politische nur feststellt, es aber nicht in seiner inhaltlichen Richtung ernst nimmt.

Das heisst: Wenn der Text politisch ist, dann lässt er sich festlegen. Und dann ist Hohls Bericht überwiegend eine radikal subjektive und wertende Erklärungsanmassung, die sich gegen das angesichts einer Katastrophe übliche reine Beschreiben wehrt. Dagegen, dass man aus falscher Scham die Erklärungen nicht wagt, wonach gerade die Opfer dringend verlangen, und seien sie noch so ungenügend.

Die Tat, die David Hohl, diesen «unfertigen» Entwicklungshelfer, letztlich doch noch zu einem halben Helden macht und die ihn überhaupt rechtfertigt, den Bericht über den Völkermord so zu erzählen, dass er nicht das Fremde im Eigenen sucht, sondern im Fremden das Eigene denunziert, ist sein Dableiben und Ausharren in der hunderttägigen Schneide- und Schlagarbeit der Massenmörder. So kläglich dargestellt wie möglich, als feiger Sprung hinter das Notstromaggregat im Garten, damit die abflugbereiten KollegInnen ihn nicht finden, ist diese Tat genau genommen eine Nichttat. Und doch erweist sie sich in der Folge als einzige Möglichkeit zur Tat - und also als Möglichkeit, schuldig zu werden. Das heisst für ihn aber auch: «Weil ich gerecht sein wollte, wurde ich schuldig, und als ich mich schuldig machte, fühlte ich mich gerecht.»

Eine «gerechtere Schuld»?

Hohl hat es in der Folge bewusst unterlassen, seinen mordenden und plündernden Gärtner und Beschützer durch das Aufklären eines Identitätsmissverständnisses vor dem Tod zu retten, denn «irgendetwas brannte darauf, mir eine messbare Schuld zu geben, etwas, das ich tatsächlich bereuen konnte». Eine ganz andere Schuld kommt hier ins Spiel als die der anderen, die ja nur ihre Schuldigkeit getan hatten. Man ist versucht zu sagen, eine gerechtere Schuld. Intuitiv, mit dem richtigen Gespür des grossen Erzählers, legt Bärfuss die Hand auf diese schmerzende Stelle und setzt hier den Hebel an.

Über Hohl heisst es bereits am Anfang: «Er besass ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden, losgelöst von jeder Vernunft, reine Empfindung, ein Affekt.» Was zunächst wie eine Kritik am Gutmenschen Hohl aussieht, dass nämlich seine Gerechtigkeit eine Art natürlicher Rechtschaffenheit ist, wird zum Schluss zum Pathos der Parteilichkeit. Dass diese Parteilichkeit zu spät kommt und als ein passives Ausliefern des Falschen an die Falschen erscheint, verdichtet in dieser einen Szene die ganze Tragik der Situation im Ruanda von 1994. Aber noch am äussersten Ende wird klargemacht, dass Parteilichkeit oder der Einsatz für Gerechtigkeit immer etwas Singuläres ist. Sie entsteht erst, als Hohl tief drinhängt. Sie ist eben ein Impuls, ein Affekt aus einer konkreten Situation heraus, liegt ausserhalb der Vernunft, spricht eine andere Sprache, die zu erlernen eben doch notwendig ist. Sie ist das Geheimnis, das den SchweizerInnen in ihrer überparteilichen Tugendhaftigkeit entgeht.

Sie ist zunächst aber auch nicht mehr - und nicht zu lösen aus der Verstrickung in Schuld. Was feststeht, ist: Jene Universalität, auf die sich der schweizerische Einsatz für den Weltfrieden bis und mit Micheline Calmy-Rey so gern beruft, ist nicht zu haben ohne die Singularität einer parteilichen Entscheidung. Der französische Philosoph Alain Badiou bringt diesen Sachverhalt auf die schlichte Formel: «Das Universelle ereignet sich also als Singularität.» Es geht nicht ohne die emotionale Bindung an konkrete Menschen und konkrete Orte. Mit einer solchen Bindung kann man sich nicht mehr schadlos halten, ist verletzbar. Erst kürzlich hat Bärfuss auf einem Podium zum Thema «Das Schweigen der Denker, Rückzug aus der politischen Debatte» den Vorwurf der Wehleidigkeit mit dem Bekenntnis zurückgegeben: «Ja, ich bin wehleidig, weil ich nämlich empfindlich bin.»

Von daher erschliesst sich auch die Antwort auf die Anfangsfrage «Sieht so ein gebrochener Mann aus?» Sie heisst Nein. Denn Gebrochenheit, diese letzte Maske der Selbstgerechtigkeit, hat Hohl nicht nötig. Dass man sie bei ihm zwar erwartet, aber nicht recht finden mag, macht ihn zum Halbschweizer; wohnhaft nach seiner Rückkehr aus Ruanda im nicht immer ganz rechtschaffenen Jura. Kutteln essend.

Lukas Bärfuss: Hundert Tage. Roman. Wallstein Verlag. Göttingen 2008. 250 Seiten. Fr. 35.90