SP-Sicherheitspapier: Tabus brechen,Klischees bedienen

Nr. 27 –

Die SozialdemokratInnen wollen das «Unsicherheitsgefühl» ernst nehmen. Warum? Was sind die Forderungen? Und wer übt Kritik?


Die SVP war schon immer Sicherheitspartei. Die CVP, jahrzehntelang Herrin im Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement, knüpfte im April mit einem Sicherheitspapier an ihre alten Traditionen an. Und nun ist die SP an der Reihe, sich als die wahre Kämpferin für mehr Sicherheit und Sauberkeit zu profilieren: Die Fachkommission Friedens- und Sicherheitspolitik der Partei hat in den letzten Monaten ein Positionspapier mit dem Titel «Öffentliche Sicherheit für alle» erstellt, die SP-Geschäftsleitung hat den Text vergangene Woche verbal etwas entschärft und mit einem unverbindlichen Bekenntnis zu den Grundrechten versehen. Im Oktober soll der Parteitag darüber befinden.

Wie kommt es, dass die Partei gerade jetzt das Thema Sicherheit entdeckt? Die Kommission habe schon länger zu dieser Frage gearbeitet, sagte die Berner Nationalrätin Evi Allemann am Montag an einer eilends einberufenen Pressekonferenz. «Die Wahlniederlage im letzten Jahr hat uns aber dazu gebracht, auch an Tabus zu rühren.» Seit Dezember sei er auf vielen Sektionsversammlungen gewesen, sagt auch Parteipräsident Christian Levrat, der der Kommission den Auftrag für dieses Papier erteilt hat. «Immer wieder haben die Mitglieder gefordert, dass die Partei ihre Position in Sachen Sicherheit klären muss.» Levrat ist sich zwar «bewusst, dass wir mit diesem Thema die Wahlen nicht gewinnen werden. Die Sozialpolitik bleibt der Schwerpunkt.» Die Partei müsse aber aufpassen, dass sie keine «offenen Flanken» zeige. Ob sich die «objektive Sicherheit» verschlechtert habe, ob es also mehr Kriminalität und Gewalt gebe, darüber könne man sich streiten. «Sicher ist aber, dass das subjektive Unsicherheitsgefühl zugenommen hat», meint der Parteipräsident.

«Konkret und lösungsorientiert»

Die SP will «in Zukunft mehr Verantwortung übernehmen und zu einem sicheren Lebensgefühl beitragen», heisst es nun in der Einleitung des Papiers. Mit der SVP will man aber nicht in einen Topf geworfen werden, denn die habe die Unsicherheit der Bevölkerung nur missbraucht. Statt «populistischer und ideologischer Debatten» brauche es «konkrete und lösungsorientierte Massnahmen». Für die SP sei Sicherheit immer auch soziale Gerechtigkeit, Chancengleichheit und Existenzsicherung und gehe einher mit einer «Politik zur Wahrung der Freiheits- und Grundrechte». Diese Bekenntnisse hindern die Partei jedoch nicht daran, dieselben Klischees zu bedienen und dieselben Gruppen ins polizeiliche Visier zu nehmen.

Zum Beispiel Jugendliche: Die brauchen «ausreichend Freiräume und Möglichkeiten, sich zu entfalten» - aber bitte nicht im öffentlichen Raum, denn da gibt es «Menschen, die sich durch herumhängende Jugendliche bedroht und in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt fühlen». Jenen «Gruppen, die sich an keine Grenzen halten», will die SP jetzt «Grenzen setzen» und übernimmt damit ein Schlagwort der konservativen Pädagogik.

Konsequenterweise will die Partei nicht nur mehr Jugend- und SozialarbeiterInnen auf den Gassen, sondern auch mehr «sichtbare Präsenz» der Polizei, die mit «hoher Sozialkompetenz», aber auch mit «Autorität» deeskalieren soll. Sie will ferner «uniformierte nichtpolizeiliche Kräfte der öffentlichen Hand» - in der Version vom Mai war noch von «nichtpolizeilichen Sicherheitskräften» die Rede - à la Pinto (Prävention, Intervention, Toleranz) in Bern oder SIP (Sicherheit, Intervention, Prävention) in Zürich und Luzern. Und sie will eine spezielle Jugendpolizei. Diese gibt es ebenfalls schon in diversen Kantonen - etwa in Bern, wo sie vorzugsweise Jagd auf jugendliche SprayerInnen macht und von der sozialpädagogischen Ausrichtung, die die SP gerne hätte, weit entfernt ist.

Wegweisungsparagrafen fordert das Papier nicht. «Die haben wir rausgenommen, weil wir auf Integration statt Ausgrenzung setzen», sagt Evi Allemann. Hineingenommen hat die Fachkommission aber keineswegs die Forderung, solche Paragrafen, dort wo sie existieren, abzuschaffen. Eine flächendeckende Videoüberwachung will die SP zwar nicht. Eine «gezielte, den Datenschutz wahrende» Überwachung an «neuralgischen Orten» könne aber «zur Vorbeugung von Vandalismus und zur Aufklärung von Verbrechen» beitragen.

«Ein störendes Ausmass»

Härte zeigt die Partei nicht nur gegen Jugendliche: «Organisierte Bettelei muss verboten werden», schreibt die SP und meint damit wohl in erster Linie die Roma. «Unterbinden» will sie aber auch die nicht organisierte Bettelei und zwar dann, wenn sie «ein störendes Ausmass» annimmt. «In vielen Kantonen bestehen dafür die gesetzlichen Grundlagen. Sie müssen aber auch durchgesetzt werden», heisst es in dem Papier. Im Klartext bedeutet dies: Bussen und - wenn die Betroffenen sie nicht bezahlen können - Haft.

Ausländerkriminalität sei keine Frage der Nationalität, sondern in erster Linie eine der sozialen Situation. In den neunziger Jahren seien vor allem «bildungsferne Schichten» in die Schweiz «zugewandert», den Einwanderern aus dem Balkan habe man die Integration verweigert. Dass insbesondere männliche, junge Immigranten unter besonderem polizeilichem Kontrolldruck stehen, nimmt die Partei nicht zur Kenntnis. Sie will Ausländerkriminalität «mit den richtigen Instrumenten» bekämpfen. Und dazu gehört auch die Ausweisung und Ausschaffung nach einer längerfristigen Freiheitsstrafe. Die Forderung, straffällig gewordene ImmigrantInnen, die seit langem hier wohnen oder gar hier geboren sind, nicht durch die Ausweisung in ein ihnen fremdes «Heimatland» doppelt zu bestrafen, sucht man in dem Papier vergebens.

«Gewalt und Ausschreitungen» will die SP weder beim Fussball noch an Demos dulden. Letzteres ist zu allererst eine Mahnung nach innen: Die Partei dürfe sich nicht an Demonstrationen oder Kundgebungen beteiligen, die sich nicht eindeutig von Gewalt distanzieren. Anfreunden kann sich die SP jedoch auch mit den präventivpolizeilichen Massnahmen im «Hooligangesetz», jener Ergänzung des Bundesgesetzes über die innere Sicherheit, die sie vor kurzer Zeit noch mehrheitlich abgelehnt hat: mit Stadion- und Rayonverboten, Ausreisesperren, Meldepflichten, mit präventivem Polizeigewahrsam und der «Hooligandatei». «Blosse Angaben privater Sicherheitsleute» sollen dafür aber nicht ausreichen.

Immerhin will die Partei die Privatisierung der Sicherheit stoppen und Auslagerung von Polizeiaufgaben an private Sicherheitsdienste nur noch ausnahmsweise zulassen. Auch der Einsatz der Armee im Innern soll auf «schwerwiegende Bedrohungen» und auf «Sicherungsaufgaben ohne direkten Personenkontakt» begrenzt werden. Wer der Polizei mehr Aufgaben zuschanzt, braucht aber auch mehr PolizistInnen. Während die CVP im April gleich 3000 zusätzliche BeamtInnen forderte, begnügt sich die SP mit der Hälfte. Allemann und Levrat loben die Polizei als «Service public». Dass dieser öffentliche Dienst aber über spezielle gewalttätige Mittel verfügt und diese auch regelmässig anwendet, ging beim Bekenntnis zum «starken Staat» jedoch ganz vergessen. Kein Wunder also, dass die Forderung nach mehr Kontrolle in der von der Geschäftsleitung abgesegneten Version nicht einmal einen ganzen Satz umfasst und in der ursprünglichen Fassung der Kommission ganz fehlte.

Der einfachste Weg

Dieses Manko hätte die SP leicht beheben können, wenn sie denn gewollt hätte. Die Schweizer Sektion von Amnesty International hat vor fast genau einem Jahr eine rund 170 Seiten dicke Dokumentation über «Polizei, Justiz und Menschenrechte» vorgelegt, die seinerzeit grosse öffentliche Beachtung fand. Zentrales Thema darin waren die willkürlichen Polizeikontrollen und Übergriffe im öffentlichen Raum. «Davon betroffen sind vor allem Angehörige bestimmter Zielgruppen - Asylsuchende, Schwarze, Jugendliche, sogenannte Randständige», hält Amnesty-Juristin Denise Graf fest. «Das Sicherheitsgefühl dieser Personen wird immer wieder arg durch die Hüterin der Sicherheit selbst in Mitleidenschaft gezogen.» Das sei umso beunruhigender, als bei Polizeiübergriffen oft Straflosigkeit herrsche, Verfahren gegen Polizeiangehörige verschleppt würden und vor Gericht eben keine Waffengleichheit zwischen klagenden Betroffenen und angeklagten PolizistInnen herrsche.

Graf ist deswegen «äusserst enttäuscht», dass die wichtigste Forderung ihrer Dokumentation, nämlich die nach starken unabhängigen Kontroll- und Beschwerdeinstanzen, im SP-Papier völlig untergegangen sei. Indem die SP sich auf das diffuse subjektive Unsicherheitsgefühl bestimmter gesellschaftlicher Kreise abstütze, fördere sie die Intoleranz gegen Minderheiten, die sich in unserer Gesellschaft immer stärker ausbreite. Graf stützt sich bei ihrer Aussage pikanterweise auf den Neuenburger Polizeikommandanten, der insbesondere in der Debatte um die Jugendkriminalität regelmässig betonte, dass das Unsicherheitsgefühl der Bevölkerung nicht mit der Realität übereinstimme, aber massgeblich zu einer stärkeren Belastung der Polizei führe.

Die SP-Führung wird sich aber nicht nur mit der Kritik von Nichtregierungsorganisationen auseinandersetzen müssen, mit denen sie bisher immer wieder zusammenarbeitete und deren Mitglieder ihr nahestehen. Auch die Partei selbst ist in Sachen Sicherheit gespalten. Während die SP in Bern das städtische Bahnhofreglement ihres Stadtpräsidenten und das darin enthaltene Bettelverbot in und um den Bahnhof befürwortete, revoltierte im Kanton Zürich die Basis gegen das Votum der Fraktion und der sozialdemokratischen Polizeidirektorin der Stadt und beschloss die Neinparole zum Polizeigesetz. Auch in St. Gallen, Chur und Luzern beteiligte sich die SP an Referenden gegen Videoüberwachung und Wegweisungen.

Mitgeschwommen

Nicht zufällig kommt daher die heftigste Kritik an dem Papier von jungen Parteimitgliedern von der Basis. Daniel Gähwiler von den Luzerner Jusos findet, die Parteileitung habe mit dem Papier den einfachsten Weg eingeschlagen. Statt zu fragen, wie das Unsicherheitsgefühl bei einem Teil der Bevölkerung zustande komme, obwohl selbst die offiziellen Kriminalstatistiken eine andere Sprache sprechen, schwimme die Partei in der von der SVP getriebenen Sicherheitswelle einfach mit. Das bringe aber keine Wählerstimmen.

Gähwiler erinnert daran, dass es vor allem Gewerbetreibende seien, die nicht nur Bettler, sondern auch StrassenmusikerInnen als störend empfinden und um die «Standortattraktivität» ihres Geschäfts fürchteten. Die SP spiele die Jugendlichen gegen andere BenutzerInnen des öffentlichen Raumes aus. Die Freiräume und Entfaltungsmöglichkeiten für Jugendliche, von denen im Papier die Rede ist, dürften nicht an der Peripherie angesiedelt sein, reklamiert auch Gähwilers Kollege David Roth. «Sonst bleibt am Ende nur noch die Freiheit im Ghetto.»