Steff Signer: Vom Schlürfen und Auslöffeln der Seelenbrühe

Nr. 37 –

Einst nannte man ihn «Frank Zappa der Ostschweiz». Dreissig Jahre später meldet sich der Musiker mit «Highmatt» zurück: einem ausgefallenen Buch und einem Bühnenprogramm aus dem ausserrhodischen Hinterland.


Lange hat man nichts mehr gehört. Nach furioser Produktivität in jungen und jüngeren Jahren war er abgetaucht. Steff Signer, Jahrgang 1951, liess zwischen den späten sechziger und den frühen achtziger Jahren als Leader irrwitziger Combos wie Infrasteff’s Futzis, später als Komponist von Orchesterwerken und einer Oper aufhorchen. Speziell an ihm war zunächst die (damals noch weitgehend ungehörte) Mischung aus Appenzeller Volksmusik, Jazz, Rock und Minimal Music, kombiniert mit einer gehörigen Portion Dada.

Man nannte ihn «Frank Zappa der Ostschweiz» - er war ein Pionier in diesen Breitengraden. Doch schon in den späten achtziger Jahren bahnte sich sein Rückzug aus der posthippiesken Szene an, die ihren Boden im Biotop des ausserrhodischen Appenzellerlands der siebziger Jahre hatte, als zwischen Säntis und Bodensee viele Freaks die Gegend unsicher machten. Signer hatte die Ohren voll von einem Kulturbetrieb, der nach und nach fast alles mit einem Label zu versehen begann. Was einst als explosive Mischung von Klängen aus dem engen Hinterland und der weiten Welt Grenzen überflog, zwängte sich zunehmend ins Kanalsystem allgegenwärtiger Standortvermarktung. 1993 machte Signer einen letzten Strich als Musiker und Komponist. Es gab anderes zu tun. Hinter den Kulissen.

Gehen und drauflosdichten

Fünfzehn Jahre später sitzt Signer in seiner Küche in Herisau. Hinter ihm liegen Jahre des Rückzugs; vor ihm die Fahnen eines Buchs, das dieser Tage im Limmat-Verlag erscheint. Tausende von Kilometern ist er in dieser Zeit gewandert - unzählige Ausflüge von Herisau an den Bodensee, während denen, fern vom hysterischen Kunstbetrieb und der geschäftigen Musikbranche, erste Melodien und Sprüche aus ihm herauspurzelten. «Highmatt. Allerlei schräge Geschichten, Traktakte, Seelenprotokolle, Sprüche und Lieder aus dem Hinterland» lautet der Titel des Buchs, das daraus entstanden ist.

In Format und Aufmachung kommt «Highmatt» wie ein Kalenderbuch daher: mit Ornamenten, Stichen und verschnörkelten Titelschriften. Doch wer eine volksmusikalisch-heimatliterarische Parodie erwartet, täuscht sich. Signers Texte, Lieder und Rezepte erfinden Heimat fortlaufend weiter, schreiben, tönen und stechen sie um.

Der Rucksack, mit dem er durch die Gegend zieht, ist schwer. Doch je länger er mit ihm geht, desto leichter werden die Geschichten. Und auch die Lieder. Es hat etwas von Hinterland-Buddhismus: Traurige Gestalten tauchen aus der Vernebelung, manchmal fluchen sie, und das Plappern mündet in Gesang. Viele Geschichten hat Signer im Dialekt geschrieben, wie er im Hinterland genäselt wird: ein Dialekt, der sich abschleift.

Brauchtum und Anarchie

«Alls goot / wenns Herz deför schloot»: Signers Umgang mit dem Dialekt seiner Kindheit ist poetisch - und dabei vor allem musikalisch. Aus dahin gedachten Sätzen mit lang gedehnten Vokalen bildet sich melodischer Singsang. Welches Wort nun zum wortwörtlichen Vokabular der HinterländerInnen gehört und welches Signer daraus erfindet, ist sekundär. Signer macht Vokabeln lautbar, die bislang vergeblich auf ihre Klangwerdung gewartet haben. «Zeit vertrödeln» übersetzt er mit «Tschäderasse im Schtondeloo».

Doch lässt er nicht nur Sprache nach Herz und Laune laufen und fliessen und «regepfloteren». Auch die Geschichten, Bräuche, Menschen, Signer selbst befinden sich in laufender Neuerfindung. Man weiss nicht recht, was ein realer Brauch ist - und was ein von Signer erfundener. Wobei diese Unterscheidung grad nicht im Sinn des Autors ist. Jeder lebendige Satz, jedes beherzt gesungene Lied, jedes lebendige Fest ist Neuerfindung, jeder gebrauchte Moment umgesetzte Fiktion: Brauchtum als gelebte Anarchie.

Das ist auf der einen Seite dieses Tal voller Singsang, Witz und Geselligkeit. Das Hinterland steht im «Highmatt» aber auch für schwere Vergangenheit, in die es einen an einem vernebelten Herbsttag verschlägt: Dämonisch verdunkeltes Land voller Missbrauch, Geheimniskram und Atemnot.

Signer weiss, wovon er spricht, wenn er unter die Nebeldecke schaut. Wenn er die «tragisch-komische Volkstheater-Geschichte» vom «Epfelbomm-Hannes» erzählt, jenem im Suff gezeugten Kind, das «von Geburt an eine Arschlochkarte aus dem Spiel des Lebens gezogen» hat und später, aus seinem ersten Lohn als Forstarbeiter, eine Motorsäge kauft, die er «Fitzeli» tauft und in seiner Freizeit in seiner Kammer vor sich hinbrummen oder -heulen lässt, als handle es sich um ein kostbares Musikinstrument. Und singt: «Döre bi Wend / es chlopfet i mim Grend / es chlopft i mim Herz / da goht nüd ohni Schmerz.» Oder die Geschichte vom Gantenbein, dem «Hilfsbüezer vo Highwil», der am Musikfest 1961 in Hundwil, dem «grössten kollektiven Besäufnis seit Kriegsende», in einer Art Initiation unrettbar dem Rock ’n’ Roll verfällt.

Auch den Kulturbetrieb nimmt Signer aufs Korn. Zum Beispiel, wenn er auf die zwölfstündige Übertragung des «Atmens eines Museumsraumes mit Bildern des Künstlers Erwin Wurm» im sogenannten «Radio Bergwand» hinweist. Oder von «kunscht- ond kulturbeflissenen Schtädtern» berichtet, die «immer gern off de Luur noch Neuemniedagewesenem sind, Weltmeischter im Veridealisiere von Äägebrötler-Landlebe, Ästhetisiere vo brachialer Armut». Und dann gelingen ihm ganz prächtige Porträts von Menschen, die je realer erscheinen, desto gelungener sie erfunden sind: sogenannt «äägewillig Äagete», die der Autor entschieden von sogenannt «verlädelig Verbääbelete» unterscheidet. Letzteren schenkt er am Schluss der «Büezer-Gschicht» eine Widmung. Voller Wehmut erinnert sich der Sägerei-Bueb und «Mittelstandianer», der «erscht schpöter e Frank-Zappa-Ordensmitglied» geworden ist, an die Zeit mit den Arbeiterkindern: «Bi de Sozi Büezer-Goofe han i s Lebe chöne aalange. Da isch grebe worde, ond seb het im Seeleofe Wärmi erzügt. (...) Doch bald emool hönd sich d Zite gänderet. Ond Büezer hönd sich i Aagschtelti, i Mitarbeiter, i Lehrer, denn i Mittelschuellehrer ond i Awält verwandlet, ond wenns dai seltenerwiis zom Mittelschuelmüetterle ond Mittelschuelväterle oder Awaltmüetterle ond Awaltväterle choo isch, denn hets s seltenerwiis viilicht en verwöönte, blääche, öberforderte, psychologisierte spielgruppenorientierte Einzelgoof gee, en verlädelig verbääbelete. (...) Da ischt Gschicht vo de schwizerische Sozialdemokratie, ond dromm isch es hüt so, wies ischt.»

Ein Buch zum Brauchen

Was aus allen Geschichten, Sprüchen und Liedern herausklingt, ist jene «Mischung aus Tief-, Trüb-, Hinter- und Frohsinn», wie der Ausserrhoder Journalist Hanspeter Spörri schreibt, «die typisch für das Appenzellerland, vor allem das Ausserrhoder Hinterland sein könnte, wäre sie nicht so radikal».

In dieser Spannungszone ist Signer aufgewachsen. Es muss Zeiten gegeben haben, da es ihn beinah zerrissen hat. Nun aber scheint sich die Spannung zwischen himmelhochjauchzendem High und schwermütigem Matt in einen Fluss der Lieder und Erzählungen verwandelt zu haben. «Highmatt» ist mehr als ein Buch zum Lesen und Schauen. Es ist ein Buch zum Brauchen. Zum Kochen, zum Singen, zum Leben. Dazu gehören zahlreiche Kochrezepte von Signers Urgrossmutter. Natürlich hat er sie nicht einfach übernommen, sondern leicht variiert. So auch die «Seelenbrühe» («Kochen bis das Zeugs gar ist. Heisse Suppe hörbar vom Löffel schlürfen»). Auch die alten Lieder hat Signer weiterkomponiert. Eine lebendige Angelegenheit, die demnächst auch auf der Bühne zu hören ist. Der Musiker, Sänger und Sprachperformer tritt nach über zwanzigjähriger Pause wieder vor den Vorhang.

Steff Signer: Highmatt. Limmat Verlag. Zürich 2008. 148 Seiten. Fr. 29.80

Zürich Paulus-Akademie, Do, 18. September, 19.30 Uhr: Lesung aus «Highmatt».

Hundwiler Höhi, Mi, 24. September, 20 Uhr: Highmatt-Gipfel mit Hanspeter Spörri und Steff Signer: Philosophisches über Highmatt, Fremde und 1968.

www.steffsigner.ch (Achtung: Sound)